Mariä Geburt und die Zeit danach
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Stand: 13. Dezember 2023
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Sie schaute wieder,
was Ihr Geist in Gott gesehen hatte
Beitrag 11
Jesus spricht:
»Maria dachte an Gott. Sie träumte von Gott; sie glaubte zu träumen. Sie tat nichts anderes, als wiederzusehen, was ihr Geist im Glanz des Himmels Got-tes geschaut hatte, da sie erschaffen wurde, um mit dem auf der Erde empfan-genen Leib vereinigt zu werden. Sie teilte mit Gott, wenn auch in viel geringe-rem Maß, so wie die Gerechtigkeit es verlangt, eine der Eigenschaften Gottes: die des Sich-Erinnerns, des Schauens und Vorausschauens, durch eine erha-bene und vollkommene, nicht durch die Erbsünde verletzte Intelligenz.
Eine der Ähnlichkeiten besteht in der Fähigkeit des von der Gnade erfüllten Geistes, sich zu erinnern, zu sehen und vorauszusehen. Das erklärt die Fähig-keit, in der Zukunft zu lesen: eine Fähigkeit, die oft direkt aus dem Willen Got-tes entspringt, andere Male aus der Erinnerung, die auftaucht, wie die Sonne am Morgen, und einen bestimmten Punkt des Horizontes der Jahrhunderte beleuchtet, der schon gesehen ward vom Schoß Gottes aus.
Aber denkt einmal nach! Diese höchste Intelligenz, dieser Gedanke, der alles weiß, diese Schau, die alles sieht, die euch erschuf durch einen Willensakt und mit einem Hauch seiner unendlichen Liebe und euch zu seinen Kindern mach-te durch euren Ursprung und zu seinen Söhnen durch eure Bestimmung:
Sie gibt es euch in unendlich kleinem Maß (nicht im pantheistischen, sondern im theologischen Sinn „einer Teilnahme an der göttlichen Natur“ zu verstehen). Denn das Geschöpf könnte den Schöpfer nicht umfassen. Aber dieser Teil ist vollkom-men und vollständig in seiner Kleinheit.
Erhabenheit des menschlichen Geistes, der durch die Gnade mit Gott verbun-den ist. Er ist teilhaftig der Fähigkeit Gottes, zu erkennen. Es gibt keinen ande-ren Weg. Das sollen alle bedenken, die übernatürliche Geheimnisse begreifen möchten. Jede Erkenntnis, die nicht aus einer von der Gnade erfüllten Seele kommt – der aber ist nicht in der Gnade, der gegen das Gesetz Gottes handelt, das klar in seinen Geboten ist – kann nur von Satan kommen und entspricht schwerlich der Wahrheit, auch wenn sie Menschliches zum Gegenstand hat.
Es gibt keinen andren Weg, das Wahre zu erkennen, als den von Gott stam-menden, der redet und spricht oder uns etwas ins Gedächtnis ruft, wie ein Vater dem Sohn sein Vaterhaus ins Gedächtnis ruft und sagt: „Erinnerst du dich, als du mit mir dieses oder jenes tatest, dieses sahst oder jenes hörtest?
Erinnerst du dich daran, als du von mir den Abschiedskuß erhieltst?
Und was die beschränkte Fassungskraft des Menschen in der Gnade nicht er-reicht, das ergänzt der Geist des Wissens, der spricht und unterweist.
Das Zelt, in dem die drei Personen wohnen, ist der Ort der Versöhnung, an dem der Ewige ruht und nicht aus einer Wolke spricht, sondern dem getreuen Sohn sein Antlitz enthüllt. Die Heiligen (die Gerechten) erinnern sich Gottes und der Worte, die sie gehört haben vom Schöpfergeist und die die göttliche Liebe in ihrem Herzen erweckt, um sie wie Adler zur Betrachtung des Wahren und zur Erkenntnis der Zeit zu erheben.
Sie ist es, die den Kreis der Prophetinnen des Alten Testaments schließt und den der „Wortträger Gottes“ im Neuen Testament eröffnet. Wahre Arche des Wortes Gottes, schaut sie hinein in ihr in Ewigkeit unverletztes Innere, entdeckt sie, geschrieben vom Finger Gottes auf ihr unbeflecktes Herz, die Worte des ewigen Wissens und erinnert sich wie alle Heiligen, sie bereits in ihrem un-sterblichen Geist gehört zu haben beim Geboren-werden, von Gott, dem Vater und Schöpfer allen Lebens. Und wenn sie sich nicht an alle ihre künftigen Aufgaben erinnert, so geschieht das, weil Gott in jeder menschlichen Vollkom-menheit Lücken läßt nach dem Gesetz der göttlichen Klugheit, die Güte ist und Verdienst bedeutet für das Geschöpf.
Der Geist Marias war im Himmel, Gemüt und Fleisch auf der Erde, und sie mußte Erde und Fleisch mit Füßen treten, um den Geist zu erreichen und ihn mit dem Heiligen Geist in fruchtbarer Umarmung zu verbinden.«
Du sollst die Mutter des Gesalbten sein
Beitrag 10.1
Meine einzige Liebe ist Er, der mich liebt,
und zwar dem Geiste nach
Eine höchstens zwölfjährige Maria, deren Gesichtchen nicht mehr das Rund-liche der Kindheit hat, wohl aber schon die künftigen Züge der Frau im Oval, das sich verlängert.
Auch die Haare fallen nicht mehr mit ihren Locken aufgelöst über den Hals herab; sie sind in zwei schwere Zöpfe von blassem Gold geflochten und wie mit Silber gemischt, so hell sind sie; sie bedecken die Schultern und reichen bis zu den Hüften. Der Blick ist nachdenklicher und reifer geworden, obgleich das Gesicht noch immer kindliche Züge aufweist. Ein schönes, reines Mäd-chen, das ganz in Weiß gekleidet in einer kleinen, weißen Kammer näht. Durch das weit geöffnete Fenster ist das mächtige zentrale Gebäude des Tempels sichtbar mit allen Treppen, den Höfen und den Säulengängen; dann die Um-fassungsmauern und jenseits die Stadt mit ihren Gassen, Häusern und Gärten, und im Hintergrund der grüne Gipfel des Ölberges. Sie näht und singt mit lei-ser Stimme.
Er lautet:
»Wie ein Stern im klaren Gewässer,
ein Licht mir leuchtet im Herzensgrund.
Seit meiner Kindheit weicht es nicht von mir,
und es geleitet mich sanft, voller Liebe.
Im Grund des Herzens tönt ein Gesang.
Woher mag er wohl kommen?
O Mensch, du weißt es nicht.
Von dort, wo der Heilige wohnt.
Ich schaue auf meinen hellen Stern,
ich will nichts, was nicht so ist,
und sei es noch so süß und teuer,
wie dieses sanfte Licht, das ganz mir gehört.
Du hast mich getragen von den Himmelshöhen,
Stern, hinein in einen Mutterschoß.
Du lebst jetzt in mir, doch hinter den Schleiern
sehe ich das Antlitz des Vaters.
Wann gibst du deiner Magd die Ehre,
die demütige Magd des Erlösers zu sein?
Sende uns, sende uns vom Himmel den Messias!
Heiliger Vater, nimm das Opfer Marias an!«
Maria schweigt, lächelt und seufzt; dann fällt sie zum Gebet auf die Knie.
Ihr Antlitz ist ganz Licht.
Aus ihrem Inneren scheint eine verborgene Sonne Licht auszustrahlen, den rosa Schnee der Haut Marias zu entzünden und sich über die Dinge zu ergie-ßen, selbst über die Sonne, die auf die Erde scheint, Segen spendet und viel Gutes verheißt.
Während Maria sich anschickt, sich nach ihrem liebeglühenden Gebet zu erhe-ben, und ihr Antlitz in leuchtendem Entzücken glüht, tritt die Greisin Hanna des Penuël ein. Erstaunt oder wenigstens voller Bewunderung über die Haltung und den Anblick Marias bleibt sie stehen. Dann ruft sie: »Maria!« und das Mäd-chen wendet sich um mit einem Lächeln, das neu, aber nicht weniger schön ist, und grüßt: »Hanna, der Friede sei mit dir!« »Hast du gebetet? Hast du nie das Gefühl, genug gebetet zu haben?«
Mehr als nahe: er ist in meinem Herzen. Gott möge mir solchen Übermut ver-zeihen. Aber ich fühle mich nicht allein. Siehst du, dort in jenem Haus von Gold und von Schnee, hinter dem doppelten Vorhang, befindet sich der Heilige der Heiligen. Nie vermag ein Auge, abgesehen von dem des Hohenpriesters, auf den Sühnealtar zu blicken, auf dem die Herrlichkeit des Herrn ruht. Aber ich brauche diesen doppelten
Vorhang, der sich bewegt beim Gesang der Jungfrauen und Leviten und duftet von kostbarem Weihrauch, nicht mit ehrfurchtsvoller Seele anzuschauen, wie um das doppelte Gefüge zu durchbohren und das Zeugnis des Bundes durch-leuchten zu lassen. Ja, ich schaue ihn an. Fürchte nicht, daß ich es nicht mit ehrfürchtigem Auge tue, wie jeder Sohn Israels! Fürchte nicht, daß der Stolz mich blende bei dem Gedanken an das, was ich dir sage! Ich schaue ihn an, und es gibt keinen Knecht im Volk Gottes, der das Haus Gottes, seines Herrn, demütiger anschaut, als ich es tue, die ich überzeugt bin, die Geringste von allen zu sein. Aber was sehe ich? Was stelle ich mir vor hinter dem Vorhang? Ein Zelt. Und was hinter ihm?
Ich bin mitten unter euch, meine teuren Lehrmeisterinnen und Gefährtinnen. Aber ein Kreis von Flammen sondert mich von euch ab. In dem Kreis befinden sich Gott und ich. Und ich sehe euch durch das Feuer Gottes, und so liebe ich euch. Aber ich kann euch nicht dem Fleisch nach lieben und nie werde ich je-manden dem Fleisch nach lieben.
Ich kenne mein Los. Das Gesetz Israels will, daß jedes Mädchen eine Braut werde, und jede Braut eine Mutter [Gen 1,28; 9,1; Tob 8,9; Num 36,6–10; 1 Tim 5,14]. Ich will dem Gesetz gehorchen; ich gehorche aber auch der Stimme, die mir sagt: „Ich will dich.“ Jungfrau bin ich und werde ich sein. Wie werde ich es
machen können? Die süße, unsichtbare Gegenwart, die mit mir ist, wird mir helfen, denn sie will es; ich fürchte mich nicht.
Ich habe keinen Vater und keine Mutter mehr und der Ewige allein weiß, wie dieser Verlust alles, was menschlich in mir war, verbrannt hat. Es verbrannte, und ich erlitt einen tiefen Schmerz. Jetzt habe ich nichts mehr als Gott. Ihm gehorche ich daher blindlings.
Ich hätte es auch gegen den Willen des Vaters und der Mutter getan; denn die Stimme lehrt mich, daß der, der ihr folgen will, an Vater und Mutter, an den lie-ben Wächtern der äußeren Mauern eines Kinderherzens, vorüberschreiten muß. Die Eltern wollen ihre Kinder auf ihre Weise zum Glück führen und sie wissen nicht, daß es andere Wege gibt, deren Freude und Friede unendlich sind.
Ich hätte auf Kleider und Mantel verzichtet, um der Stimme zu folgen, die mir sagt: „Komm, du meine Geliebte, meine Braut!“ Alles hätte ich zurückgelassen, sowohl die Tränen – denn ich hätte geweint, weil ich ihnen nicht hätte gehor-chen können – als auch die Rubinen meines Blutes – denn auch dem Tod hät-te ich getrotzt, um der rufenden Stimme zu folgen; sie hätten ihnen gesagt, daß es noch etwas Größeres und Süßeres gibt als die Liebe zu Vater und Mutter: die Stimme Gottes.
Aber jetzt hat mich sein Wille auch von diesen Banden der Kindesliebe gelöst. Meine Eltern waren zwei Gerechte, und Gott sprach sicher in ihnen, wie er in mir spricht. Sie waren der Gerechtigkeit und der Wahrheit gefolgt. Wenn ich an sie denke, stelle ich sie mir in der Ruhe der Erwartung unter den Patriarchen vor, und ich beschleunige mit meinem Opfer die Ankunft des Messias, um ih-nen die Pforten des Himmels zu öffnen. Auf Erden bin ich es, die mich lenkt, oder vielmehr, es ist Gott, der seine arme Dienerin lenkt und ihr seine Gebote vorschreibt; und ich erfülle sie, denn sie zu erfüllen ist eine Freude. Wenn die Stunde kommt, werde ich meinem Bräutigam mein Geheimnis mitteilen und er wird es annehmen.«
Beitrag 10.2
»Aber Maria, welche Worte werden dir helfen, ihn zu überreden? Du wirst die Liebe eines Menschen, das Gesetz und das Leben gegen dich haben.« »Auf meiner Seite aber habe ich Gott. Gott wird das Herz des Bräutigams dem Licht öffnen.
Das Gesetz - Hanna, nenne mich nicht eine Gotteslästerin - aber ich glaube, das Gesetz wird geändert werden. Von wem, fragst du, da es göttlich ist? Von dem einzigen, der es ändern kann: von Gott.
Denn bei der Lesung Daniels [Dan 9,24] entzündet sich im Innersten meines Her-zens ein großes Licht und mein Geist erfaßt den Sinn der geheimnisvollen Wor-te. Abgekürzt werden die siebzig Wochen durch die Gebete der Gerechten. Verändert sich so die Zahl der Jahre? Nein. Prophezeiungen lügen nicht. Aber weder der Lauf der Sonne, noch der des Mondes ist das Maß der propheti-schen Zeit; daher sage ich:
Oh! Oh! möchte dieses Licht, das mich liebt und das mir soviel mitteilt, mir sa-gen, wo die Glückliche ist, die ihrem Volk den Sohn und den Messias gebären wird! Barfuß würde ich die Welt durcheilen, weder Kälte und Eis, noch Hitze und Staub, noch Tiere und Hunger würden mich daran hindern, zu ihr zu ge-langen und ihr zu sagen: „Gestatte deiner Dienerin und der Magd der Knechte des Gesalbten, unter deinem Dach zu leben. Ich werde den Mühlstein drehen und die Presse; als Sklavin mich an die Mühle stellen; deine Herde will ich hüten und die Windeln deines Kindes waschen; setze mich in deine Küche, stelle mich an deinen Ofen - wohin du willst; aber nimm mich an!
Und wenn sie mich nicht wollte, so würde ich an ihrer Tür von Almosen und Spott leben, unter freiem Himmel und heißer Sonne, nur um die Stimme des Messiaskindes und das Echo seines Lachens zu hören; um ihn vorübergehen zu sehen und vielleicht eines Tages von ihm ein Scherflein Brot zu erhalten. Oh, wenn auch der Hunger meine Eingeweide zerreißen und ich ohnmächtig werden sollte nach den größten Entbehrungen: ich würde dieses Brot nicht es-sen! Ich würde es wie ein Säcklein voller Perlen an mein Herz drücken und es küssen, um den Wohlgeruch der Hände des Gesalbten zu spüren, und ich hät-te keinen Hunger und keine Kälte mehr; denn diese Berührung würde mir Ver-zückung und Wärme, Verzückung und Speise sein.«
»Du solltest die Mutter des Gesalbten sein, da du ihn so liebst! Willst du des-halb Jungfrau bleiben?«
»Oh! nein. Ich bin Elend und Staub. Ich wage nicht, den Blick zur Herrlichkeit Gottes zu erheben. Und das ist der Grund, weshalb ich lieber in das Innere des Herzens schaue als auf den doppelten Vorhang, auf dessen anderer Seite ich die unsichtbare Gegenwart Jehovas weiß. Dort ist der furchtbare Gott des Sinai; hier aber in mir sehe ich unseren Vater, ein liebevolles Antlitz, das mir zulächelt und mich segnet; denn ich bin klein wie ein Vöglein, das der Wind mit sich trägt, ohne seine Schwere zu fühlen, und schwach wie der Stiel des wil-den Maiblümchens, das nur zu blühen und Duft zu verbreiten weiß und dem Wind keine andere Kraft entgegenstemmt als die seiner duftenden und reinen, süßen Sanftmut. Gott, mein Liebeshauch! Dem von Gott und einer Jungfrau geborenen, dem Heiligsten, kann nichts anderes gefallen als das, was er im Himmel zur Mutter erwählt hat und was ihm auf Erden vom himmlischen Vater spricht: die Reinheit.
Wenn das Gesetz dies betrachten würde, wenn die Rabbis, die es mit all den Spitzfindigkeiten ihrer Lehren versehen haben, ihren Sinn auf höhere Horizon-te hinwenden würden, wenn sie sich eintauchen würden in das Übernatürliche, ohne das Menschliche und den eigenen Vorteil zu suchen, worüber sie das höchste Ziel vergessen, wenn sie das aufgeben würden, dann würden sie ih-re Unterweisung vor allem auf die Reinheit hinrichten, damit der König Israels bei seiner Ankunft diese vorfinde. Mit dem Ölbaum des Friedfertigen, mit den Palmen des Triumphators streut Lilien, Lilien und immer wieder Lilien!
Sieh, wie der Tau aus einem porösen Gefäß, fällt nun ein Regen von Blut. Mö-ge es nicht hinfallen, wo es Entheiligung und Gotteslästerung vorfindet, dieses göttliche Blut, sondern in Kelche von leuchtender Reinheit, die es aufnehmen und sammeln, um es dann über seelisch Kranke zu sprengen, über die Aussät-zigen im Geiste und die für Gott Gestorbenen!
Reicht ihm Lilien, Lilien, um mit dem weißen Gewand reiner Blütenblätter den Schweiß und die Tränen des Gesalbten zu trocknen! Gebt Lilien, gebt Lilien für das heilige Fieber des Märtyrers!
Oh, Christus! Christus! Meine Sehnsucht!«
Maria schweigt, weinend und überwältigt. Auch Hanna schweigt und sagt dann mit der reinen Stimme der bewegten Greisin: »Hast du mich noch anderes zu lehren, Maria?«
»Oh, Verzeihung, du bist die Meisterin und ich bin ein armes Nichts. Aber die-se Stimme steigt mir aus dem Herzen empor. Ich überwache sie gut, um nicht zu sprechen. Aber wie ein Fluß, dessen Wasser über die Ufer tritt und die
Dämme durchbricht, so hat es mich erfaßt und ist durchgebrochen. Achte nicht auf meine Worte und demütige meine Anmaßung! Die geheimnisvollen Worte sollten verborgen bleiben in der geheimen Lade des Herzens, die Gott in sei-ner Güte beschenkte. Aber sie ist so liebreich, diese unsichtbare Gegenwart, daß ich davon trunken bin. Hanna verzeihe mir, deiner kleinen Magd!«
Hanna drückt sie an sich, und das faltenreiche, alte Antlitz bebt und glänzt vom Weinen. Die Tränen bahnen sich zwischen den Falten einen Weg, wie Wasser auf einem trockenen Erdreich. Aber die alte Meisterin erregt kein Lachen; vielmehr bewirkt ihr Weinen höchste Verehrung.
Der Tod von Joachim und Anna
Beitrag 9.1
Jesus spricht:
Wie bei einer schnellen Abenddämmerung im Winter, bei der ein Schneesturm die Wolken am Himmel häuft, so wurde es über dem Leben meiner Großeltern schnell Nacht, nachdem ihre „Sonne“ sich vor dem heiligen Vorhang des Tem-pels niedergelassen hatte, um dort zu erstrahlen. Aber ist nicht gesagt worden:
„Die Weisheit gibt Leben ihren Kindern, nimmt unter ihren Schutz diejenigen, die sie suchen.
Zuerst erwählt sie ihn; dann sendet sie ihm Ängste, Furcht und Prüfungen; sie wird ihn quälen mit der Geißel ihrer Zucht, bis seine Gedanken von ihr erfüllt sind und sie ihm trauen kann. Dann aber wird sie ihm Beständigkeit geben; sie wird sich ihm wieder zuwenden, ihn geradeaus führen und ihm Zufriedenheit geben. Sie wird ihm ihre Geheimnisse aufdecken, wird in ihn die Schätze ihres Wissens und ihrer Einsicht in die Gerechtigkeit legen.“ [Sir 4,12–21].
Ja, all das ist schon gesagt worden. Die Bücher der Weisheit gelten für alle Menschen, da sie in ihnen einen Spiegel ihrer Lebensführung und einen Füh-rer haben.
Glücklich aber sind jene,
die unter die geistigen Liebhaber
der Weisheit gezählt werden können.
Ich habe mich in meiner irdischen Verwandtschaft mit Weisen umgeben. Anna, Joachim, Josef, Zacharias und noch mehr Elisabet und der Täufer, waren sie nicht wirklich weise? Ich will nicht von meiner Mutter sprechen, in der die Weis-heit sich niedergelassen hatte.
Von der Jugend bis zum Grab hatte die Weisheit meine Großeltern eine gott-gefällige Lebensweise gelehrt, und wie ein Zelt vor den Furien der Elemente schützt, so wurden sie von jener vor der Gefahr der Sünde bewahrt.
Die heilige Gottesfurcht ist die Wurzel des Baumes der Weisheit, der seine Zweige ausstreckt, um mit seinem Gipfel die stille Liebe in ihrem Frieden zu erreichen, die friedliche Liebe in ihrer Sicherheit, die sichere Liebe in ihrer Treue, die treue Liebe in ihrer Glut, die vollkommene, hochherzige, tätige Liebe der Heiligen. „Wer die Weisheit liebt, liebt das Leben“, sagt der Ekklesiastikus [Sir 4,13–14].
Aber dasselbe besagt auch mein Wort: „Wer sein Leben verliert um meiner Lie-be willen, wird es retten“ [Mt 16,25; Mk 8,35; Lk 9,24]. Denn da ist nicht die Rede vom armen Leben dieser Erde, sondern von dem ewigen; nicht von den Freu-den einer Stunde, sondern von den unsterblichen.
Joachim und Anna haben sie in diesem Sinn geliebt. Und sie war mit ihnen in ihren Prüfungen. Oh, wie viele von euch möchten, ohne von Grund auf böse zu sein, nie weinen und leiden müssen! Wieviel aber hatten diese Gerechten zu leiden, die es verdienten, Maria als Tochter zu besitzen!
In diesen Erinnerungen
sollten sie die Stunde Gottes abwarten.
Und weiter:
So viele Rückschläge in der schwachen Burg ihres bescheidenen Wohlstan-des. Damit noch nicht genug:
Und wie wird sie es vorfinden, wenn es jahrelang unbebaut geblieben ist, ver-schlossen in Erwartung ihres Kommens?
Beitrag 9.2
Jesus spricht:
Die Versuchung war groß:
Aber die Kinder gehören noch vor den Eltern Gott und jedes Kind kann sagen: „Weißt du nicht, daß ich die Belange des Vaters im Himmel tun muß?“ [Lk 2,49]. Jeder Vater und jede Mutter muß lernen, sich so zu verhalten, wie Maria und Josef im Tempel, wie Anna und Joachim im Haus von Nazaret, das immer lee-rer und trauriger wurde, in dem aber eins sich nicht verminderte und vielmehr immer anwuchs: die Heiligkeit der beiden Herzen, die Heiligkeit einer Ehe.
Die Kleidchen, die ersten Sandälchen, das einfache Spielzeug ihrer fernen Kleinen und die Andenken, die Erinnerungen. Aber es erfüllt sie auch ein gro-ßer Friede; denn sie können sich sagen:
Und sieh, da steigt in ihnen eine übermenschliche Freude auf in einem himmli-schen Licht, das den Kindern der Welt unbekannt ist und das sich nicht ver-dunkelt, wenn es auf die schweren Augenlider zweier Sterbender fällt, sondern in der letzten Stunde noch heller leuchtet und Wahrheiten offenbart, die wäh-rend des ganzen Lebens in ihrer Seele geschlummert haben, sozusagen wie die in den Puppen eingeschlossenen Schmetterlinge, die nur durch leicht schimmernde Bewegungen von ihrem Dasein Zeichen geben, während sie jetzt ihre Sonnenschwingen öffnen, so daß die Worte sichtbar werden, die zur Zierde auf ihnen stehen. Und das Leben erlöscht in dem Bewußtsein einer se-ligen Zukunft für sie und ihre Nachkommenschaft und mit einem Segensspruch auf den Lippen für ihren Gott.
So war der Tod meiner Großeltern.
So entsprach er ihrem heiligen Leben.
Wegen ihrer Heiligkeit verdienten sie, die ersten Hüter der von Gott Geliebten zu sein, und erst als sich an ihrem Lebensabend eine noch größere Sonne zeigte, erahnten sie die Gnade, die Gott ihnen zuteil hatte werden lassen.
Da höre ich jemanden fragen:
Und ich antworte ihm:
Und ich füge noch hinzu:
Joachim und Anna hatten ein ganzes Leben guten Gewissens hinter sich, und dieses diente ihnen als Führer zum Himmel; und sie hatten die „Heilige“ in An-betung vor dem Altar Gottes. Sie betete für die von ihr getrennten Eltern, die bei ihr nach Gott, dem höchsten Gut, kamen; sie liebte sie, wie es das Gesetz und auch das unendliche Herz verlangen, jedoch mit einer über natürlich voll-kommenen Liebe.«
Die ewig Jungfräuliche
hat nur einen Gedanken:
Ihr Herz hinzurichten auf Gott
Beitrag 8
Jesus spricht:
»Der Hohepriester hatte gesagt: „Wandle in meiner Gegenwart und sei voll-kommen!“ Der Hohepriester wußte nicht, daß er zu einer Frau sprach, die in ihrer Vollkommenheit nur Gott nachstand. Aber er sprach im Namen Gottes, und daher war seine Anweisung heilig.
Maria hatte es verdient, daß die „Weisheit sich ihrer annahm und sich ihr zu-erst zeigte“, denn „von Anbeginn hatte sie an ihrer Pforte gewacht, und im Ver-langen, unterwiesen zu werden, wollte sie rein sein, um die vollkommene Lie-be zu erlangen und zu verdienen und sie als Lehrmeisterin zu haben“ [Spr 8,17 –34]. In ihrer Demut wußte sie nicht, daß sie sie schon besaß, bevor sie gebo-ren wurde (d. h. schon bei der Empfängnis) und daß die Vereinigung mit der Weis-heit nur die Fortsetzung der göttlichen Herzschläge im Paradiese war.
Sie konnte sich das nicht vorstellen. Und als Gott geheimnisvolle Worte in der Stille ihres Herzens sprach, so dachte sie in ihrer Demut, es seien vom Hoch-mut eingeflößte Gedanken. Sofort erhob sie ihr unschuldiges Herz zu Gott und flehte ihn an: „Habe Erbarmen mit deiner Dienerin, o Herr!“
Oh, wirklich, die wahre Weise, die ewig Jungfräuliche, hat von Anfang an nur einen Gedanken gehabt: Ihr Herz zu Gott hinzuwenden, zu wachen für den Herrn, zu beten vor dem Allerhöchsten, um Verzeihung zu bitten für die Schwä-chen ihres Herzens, an die sie in ihrer Demut glaubte; und sie wußte dabei noch nicht, daß sie im voraus für die Sünder um Vergebung bat, wie sie es später zu Füßen des Kreuzes zusammen mit ihrem sterbenden Sohn getan hatte.
Jetzt ist sie nichts weiter als ein Kind, das im heiligen Frieden des Tempels im-mer mehr ihr Reden, ihre Gefühle und ihre Erinnerungen mit Gott verbindet.
Das ist für alle.
Und dir, kleine Maria Valtorta, hat der Meister dir nichts Persönliches zu sagen?
„Wandle in meiner Gegenwart und sei vollkommen!“ Ich ändere diesen heiligen
Ausspruch leicht und richte ihn an dich, als Befehl: „Sei vollkommen in der Lie-be, vollkommen in der Hochherzigkeit, vollkommen im Leiden!“
Schau noch einmal auf die Mutter und betrachte das, was so viele nicht wissen
oder nicht wissen wollen, weil der Schmerz für ihren Geschmack und für ihren
Geist zu bitter ist.
Vollkommen sein, wie sie es war, bedeutete auch, eine vollkommene Empfind-samkeit besitzen. Daher mußte ihr das Opfer viel schwerer erscheinen; des-halb aber war es auch verdienstvoller. Wer Reinheit besitzt, besitzt Liebe; wer Liebe hat, hat Weisheit; wer Weisheit besitzt, besitzt Hochherzigkeit und Hel-dentum ; er weiß, warum er sich opfert.
Mariä Darstellung im Tempel
Beitrag 7.1
Maria ist wie in Schnee gekleidet.
Die Vorübergehenden bleiben stehen, um das schöne Kind anzuschauen, das schneeweiß gekleidet und eingehüllt ist in ein
leichtes Gewebe, das mit seinen dunklen Blatt- und Blumenmustern auf zartem Untergrund dasselbe zu sein scheint, das Anna am Tag
ihrer Reinigung trug.
Während es aber bei Anna nicht über den Gürtel hinausreichte, wallt es bei der noch ganz
jungen, kleinen Maria fast bis zum Boden und hüllt sie in ein leich-tes, leuchtendes Wölkchen von seltener
Lieblichkeit.
Ihr blondes Haar, das über die Schulter, oder richtiger, über den feinen Nacken lose
herabfällt, leuchtet an den Stellen durch, wo keine Damastverzierungen im Schleier sind.
Der Schleier ist an der Stirn festgehalten von einem hellblauen Band, auf dem offenbar von
der Mutter kleine silberne Lilien aufgestickt worden sind. Das er-wähnte
blütenweiße Kleid reicht bis zur Erde, so daß die mit weißen Sandalen bekleideten Füßchen bei ihren Schritten kaum sichtbar werden.
Die Händchen, die aus den langen Ärmeln hervorragen, gleichen zwei Blüten-blättchen der Magnolie. Abgesehen von der himmelblauen Gürtelbinde ist kei-ne andere Farbe sichtbar.
Joachim trägt dasselbe Kleid wie am Tag von Annas Reinigung; sie hingegen ist ganz in Violett gekleidet. Auch der Mantel, der ihr zugleich das Haupt be-deckt, ist dunkelviolett; sie läßt ihn weit über die Augen herabhängen. Zwei ar-me Mutteraugen, rot vom Weinen, die nicht weinen wollen und vor allem nicht weinend gesehen werden möchten, und denen es doch nicht möglich ist, nicht zu weinen unter dem Schutz des Mantels. Sie schützt sich so gegen die Bli-cke der Vorübergehenden und auch gegen jene von Joachim, dessen Augen sonst stets heiter sind; heute aber sind auch sie gerötet und trübe wegen der vergossenen und immer noch fließenden Tränen. Er geht sehr gebeugt unter seinem Kopftuch, das er wie einen Turban zusammengebunden hat und des-sen Seitenflügel rechts und links von seinem Gesicht herabhängen. Er ist jetzt ein Greis, Joachim.
Der Schmerz, sie zu verlieren, gibt dem armen Vater einen schleppenden Schritt; eine Müdigkeit in seiner ganzen Haltung, die ihn um zwanzig Jahre älter erscheinen läßt. Sein Gesicht scheint das Gesicht eines Kranken zu sein, nicht nur das eines Alten, so müde und traurig ist es mit dem leicht zitternden Mund zwischen den beiden Falten, die heute seitlich der Nase so ausgeprägt sind.
Aber wenn es ihnen auch bei vielen gelingt, bei Maria, die wegen ihrer kleinen
Gestalt von unten nach oben blickt, gelingt es ihnen nicht; das kleine Haupt erhebend, sieht sie abwechselnd auf Vater und Mutter, die sich bemühen, ihr mit zitterndem Mund zuzulächeln. Jedesmal, wenn ihr Töchterlein sie anschaut und lächelt, drücken sie ihr das kleine Händchen.
Sie gehen langsam, immer langsamer. Es scheint, als wollten sie so langsam wie möglich ihres Weges dahinziehen. Alles läßt sie haltmachen. Aber die Stra-ße muß doch einmal enden. Und das Ziel ist jetzt schon nahe. Sieh da, auf der Höhe dieses letzten Teiles der steigenden Straße erscheinen die Ringmauern des Tempels.
»Anna, meine Teure, ich bin bei dir!« sagt eine Stimme aus dem Schatten ei-nes niedrigen Bogens an einer Straßenkreuzung. Es ist Elisabet, die offenbar auf sie gewartet hat. Sie geht auf sie zu und drückt sie an ihr Herz.
Und da sie Anna weinen sieht, sagt sie zu ihr: »Komm! komm für kurze Zeit in dieses Freundeshaus. Dann gehen wir zusammen weiter. Auch Zacharias ist dort.«
Alle treten in eine niedere und dunkle Stube ein, in der ein großes Feuer als Beleuchtung dient.
Beitrag 7.2
Die Hausfrau, sicher eine Freundin Elisabets, Anna aber fremd, zieht sich höf-lich zurück, um die Neuankömmlinge allein zu lassen. »Glaube nicht, daß ich es bereue oder unwillig bin, meinen Schatz dem Herrn zu weihen«, erklärt An-na unter Tränen.
»Aber mein Herz, oh, mein Herz! Wie weh tut es ihm, meinem alten Herzen, das zurück muß in die kinderlose Zeit! Ach, wenn du es mitfühlen könntest!«
»Ich verstehe dich, meine liebe Anna, aber du bist so gut, und Gott wird dich stärken in deiner Einsamkeit. Maria wird beten für den Frieden ihrer Mama, nicht wahr?«
Maria liebkost die mütterliche Hand und küßt sie, führt sie sich über das Ge-sicht, um von ihr geliebkost zu werden, und Anna nimmt dieses Gesichtchen in ihre Hände und küßt es. Sie wird nicht müde, es zu küssen.
Zacharias tritt ein und grüßt: »Den Gerechten der Friede des Herrn!«
»Ja«, sagt Joachim, »erflehe für uns den Frieden, denn unser Inneres erzittert vor dem Opfer, wie das unseres Vaters Abraham, während er den Berg bestieg [Gen 22,1–14], und wir finden keine andere Opfergabe, um uns loszukaufen. Wir möchten es auch nicht, denn wir wollen Gott treu bleiben. Aber wir leiden darunter; Zacharias, Priester des Herrn, verstehe uns und erzürne nicht über uns!«
»Nein, im Gegenteil, euer Schmerz, der die erlaubten Grenzen nicht über-schreitet und euch nicht zur Untreue verführt, ist mir ein Vorbild der Liebe zum Allerhöchsten; aber faßt Mut! Die Prophetin Hanna wird reichlich Sorge tragen für diese Blüte Davids und Aarons.
Und da die Zeiten dem Ende entgegeneilen, sollten die Mütter des Stammes darauf achten, ihre Töchter dem Tempel zu weihen, denn aus einer Jungfrau des Stammes Davids wird der Messias hervorgehen, auch wenn auf Grund des Glaubensschwundes viele Plätze der Jungfrauen leer sind. Allzu wenige sind im Tempel, und von diesem königlichen Stamm niemand, seit vor drei Jahren Sara ihn als Braut des Elischa verließ. Es ist wahr, daß noch sechs Lustren (dreißig Jahre) bis zum Ende fehlen; nun aber hoffen wir, daß Maria die erste von vielen Jungfrauen aus dem Haus Davids vor dem heiligen Vor-hang sein wird. Und dann, wer weiß ...«
Zacharias spricht nicht weiter; er betrachtet gedankenvoll Maria.
Dann fährt er fort: »Auch ich werde über sie wachen. Ich bin Priester, und ich habe dort auch eine gewisse Macht. Ich werde sie für diesen Engel verwen-den. Und Elisabet wird sie oft besuchen.«
»Oh! sicher! Ich habe so ein großes Verlangen nach Gott, und ich werde kom-men, es diesem Kind mitzuteilen, damit sie es dem Ewigen sage.«
Anna fühlt sich etwas erleichtert. Um sie noch mehr aufzumuntern, fragt Elisa-bet: »Ist das nicht dein Brautschleier? Oder hast du einen neuen gewoben?«
»Er ist es. Ich weihe ihn zusammen mit ihr dem Herrn. Ich habe keine guten Augen mehr und auch die Reichtümer sind sehr geschwunden, der Steuern und der Unglücksfälle wegen. Ich konnte keine großen Ausgaben machen. Ich habe nur für eine gute Aussteuer für ihren Aufenthalt im Haus Gottes gesorgt und für später; denn ich denke nicht, daß ich es sein werde, die für ihre Hoch-zeitskleider sorgen wird. Und ich will, daß es die Hände ihrer Mama sind, auch wenn sie kalt und unbeweglich geworden, die sie für die Hochzeit ausstatten und ihr die Leinen und die Brautkleider weben.«
»Oh! Warum so denken?!« »Ich bin alt, meine Kusine. Nie fühlte ich mich so alt wie unter diesem Schmerz. Die letzten Kräfte meines Lebens habe ich die-ser Blume gewidmet, um sie tragen und ernähren zu können, und jetzt am En-de läßt der Schmerz, sie zu verlieren, alle meine Kräfte schwinden.« »Aber sprich nicht so, um Joachims willen!« »Du hast recht. Ich will darauf achten, für meinen Mann zu leben.«
Joachim tut, als ob er nichts gehört und auf Zacharias gelauscht hätte. Aber er hat es gehört und seufzt schwer mit vor Tränen glänzenden Augen.
»Wir sind zwischen der dritten und sechsten Stunde. Ich glaube, es wäre Zeit, zu gehen«, sagt Zacharias.
Alle erheben sich, um die Mäntel anzuziehen und zu gehen. Bevor sie aber hinausgehen, kniet Maria auf der Schwelle nieder und fleht mit ausgebreiteten Armen, wie ein kleiner Kerub: »Vater! Mutter! Euren Segen!«
Beitrag 7.3
Sie weint nicht, die tapfere Kleine. Aber ihre kleinen Lippen zittern und die von einem inneren Schluchzen bebende Stimme gleicht mehr denn je dem bangen Klagen der Turteltaube.
Die Eltern segnen und küssen sie. Einmal, zweimal, zehnmal. Sie können es nicht genug tun. Elisabet weint still und Zacharias ist, obwohl er es nicht zeigen will, gerührt. Sie verlassen das Haus, Maria zwischen Vater und Mutter, davor Zacharias und seine Frau . Sieh, schon sind sie innerhalb der Tempelmauern.
»Ich gehe zum Hohenpriester. Ihr steigt hinauf zur großen Terrasse.«
Sie durchqueren drei Höfe und drei übereinanderliegende Vorhallen, und nun sind sie zu Füßen des mit Gold beschlagenen, großen Marmorwürfels gelangt. Jede Kuppel, gewölbt wie eine riesige, halbe Orange, blitzt in der Sonne, die jetzt am Mittag senkrecht auf den weiten Vorhof fällt, der das feierliche Gebäu-de umgibt. Auch der weite Platz und die breite Treppe, die zum Tempel führt, sind mit Licht erfüllt. Nur die Säulenhalle, die der Fassade entlang der breiten Treppe gegenüberliegt, liegt im Schatten, und die hohe Pforte aus Bronze und Gold erscheint noch dunkler und feierlicher bei soviel Licht.
Nun ist sie zwischen Vater und Mutter zu Füßen der breiten Treppe. Wie muß den dreien das Herz schlagen! Elisabet befindet sich auf der Seite Annas, ein wenig hinter ihr.
Ein silberner Trompetenklang und die Pforte dreht sich in den bronzenen An-geln. Das Innere zeigt sich mit seinen Lampen im Hintergrund, und ein festli-cher Zug kommt auf den Ausgang zu. Ein feierlicher Zug unter dem Schall der silbernen Trompeten, den Wolken von Weihrauch und den Lichtern.
Nun ist der Zug auf der Schwelle, angeführt vom Hohenpriester. Ein würdevol-ler Greis, gekleidet in feinste Leinwand, darüber eine kürzere Tunika, ebenfalls aus Leinwand, und über dieser eine Art Priestergewand, ein Mittelding zwi-schen dem Priestergewand und jenem eines Diakons, sehr farbenreich: Pur pur und Gold, Violett und Weiß wechseln sich ab und leuchten wie Edelsteine in der Sonne. Zwei echte Juwelen glänzen noch viel lebhafter auf den Schul-tern des Hohenpriesters; vielleicht sind es Schnallen in einer kostbaren Fas-sung. Auf der Brust ein breites Schild mit strahlenden Edelsteinen, das an ei-ner goldenen Kette hängt.
Die feierliche Persönlichkeit tritt allein her vor bis zur Freitreppe und steht nun im Gold der Sonne, die sie noch mächtiger erscheinen läßt. Die anderen war-ten, einen Halbkreis bildend, vor der Pforte im Schatten des Säulenganges. Auf der linken Seite befindet sich eine weiße Gruppe von Mädchen mit der Prophetin Hanna und anderen älteren Frauen, offenbar Erzieherinnen.
Der Hohepriester schaut auf die Kleine und lächelt.
Er erhebt die Arme zum Himmel, um zu beten. Alle neigen ihr Haupt, wie über-wältigt von der priesterlichen Majestät, die mit der ewigen Majestät in Verbin-dung steht. Und sieh da. Er macht Maria einen Wink. Sie löst sich von Mutter und Vater wie verzückt und steigt empor und lächelt. Sie lächelt im Schatten des Tempels, dort, wo der kostbare Vorhang herabwallt.
Dann wendet sich der Hohepriester um; er legt ihr die Hand auf die Schulter, wie um sie, das makellose Lämmlein, zum Altar zu führen; er geleitet sie zum Tor des Tempels, und bevor er sie eintreten läßt, fragt er sie: »Maria, Tochter Davids, kennst du dein Gelübde?«
Auf das mit dem silbernen Stimmchen gesprochene »Ja«, ruft er: »Tritt ein, wandle in meiner Gegenwart und sei vollkommen!« [Gen 17,1].
Maria tritt ein, der Schatten verschlingt sie, und die Gruppen der Jungfrauen und der Meisterinnen, dann auch die der Leviten, verdecken sie immer mehr und trennen sie.
Sie ist verschwunden. Jetzt drehen sich auch die Pfortenflügel in ihren harmo-nischen Angeln. Ein immer enger werdender Spalt erlaubt, den festlichen Zug noch zu sehen; jetzt ist es nur noch ein Faden, jetzt nichts mehr. Das Tor ist geschlossen.
Auf den letzten Akkord der klangvollen Angeln antwortet ein Schluchzen der beiden betagten Eltern und ein einziger Ruf: »Maria, Tochter!« Dann ein Seuf-zen der beiden, die sich gegenseitig anrufen: »Anna!, Joachim!« und schließ-lich sagen: »Ehre sei dem Herrn, der sie aufnimmt in sein Haus und sie auf ihren Wegen leitet!«
Hat nicht der Sohn die Weisheit
auf die Lippen der Mutter gelegt?
Beitrag 6
Jesus spricht:
»Ich höre schon die Bemerkungen spitzfindiger Gelehrter: „Wie kann ein Kind von weniger als drei Jahren schon so sprechen? Das ist eine Übertreibung!“ Sie bedenken nicht, daß sie in dieser Weise aus mir ein Wunderwesen ma-chen, wenn sie meiner Kindheit Handlungen eines Erwachsenen zuschreiben.
Die Kirche hat die Verantwortungsfähigkeit auf das 7. Lebensjahr festgesetzt; denn das ist das Alter, in dem auch ein zurückgebliebenes Kind im großen und ganzen das Gute und das Böse zu unterscheiden vermag. Aber es gibt auch Kinder, die schon viel früher fähig sind zu unterscheiden, zu verstehen und zu wollen, und das mit einer genügend ausgebildeten Vernunft. Die kleine Imelda Lambertini, Rosa von Viterbo, Nelly Organ und Nenulina geben euch Beispiele dafür, ihr skeptischen Doktoren. Ich habe nur vier Namen genannt, unter Tau-senden heiliger Kinder, die mein Paradies bevölkern, nachdem sie auf Erden über kürzere oder längere Jahre wie Erwachsene geurteilt haben.
Gott kann ihn daher in dem Maß schenken, in dem er will, wem er will und wann er will.
Vernunft und Intelligenz waren Gaben, die den Menschen im irdischen Para-dies gegeben wurden; und wie waren sie lebendig, als die Gnade noch unbe-rührt und wirksam im Geiste der beiden ersten Menschen vorhanden war!
Im Buch des Jesus Sirach steht geschrieben : „Alle Weisheit kommt von Gott, dem Herrn; sie ist stets bei ihm gewesen, auch vor den Jahrhunderten“ [Sir 1,1].
Welche Weisheit hätten die Menschen daher besessen, wenn sie Kinder Got-tes geblieben wären?
Wie ein Meteor sich verbirgt hinter kilometerlangen Nebeln, so ist die Weisheit mit ihrem klaren Schimmer nicht mehr zu euch gelangt wegen der Nebel, die eure Vergehen immer dichter werden ließen. Dann ist Christus gekommen und hat euch die Gnade, das schönste Geschenk der Liebe Gottes, zurückge-bracht. Versteht ihr, dieses Juwel klar und rein zu erhalten? Nein. Wenn ihr es nicht zersplittert mit eurem persönlichen Willen zur Sünde, beschmutzt ihr es durch beständige kleine Fehler, Schwächen und Neigungen zum Laster. Auch durch Sympathien, die, wenn sie auch eigentlich nicht mit den sieben Haupt-lastern verbunden sind, doch eine Schwächung des Lichtes und der Wirksam-keit der Gnade bedeuten. So habt ihr das großartige Licht der Intelligenz, das Gott den ersten Menschen gegeben hatte, durch Jahrhunderte der Verdorben-heit geschwächt, die eine zerstörende Wirkung auf euer physisches und psy-chisches Leben gehabt haben.
Aber Maria war nicht nur die Reine, die neue Eva, zur Freude Gottes wieder erschaffen.
„Das Wort ist die Quelle der Weisheit“, sagt Jesus Barsirach [Sir 1,5].
Wenn einem Propheten, der den Menschen die Worte sagen muß, die ihm das Wort, die Weisheit, anvertraut hat, der Mund mit glühenden Kohlen gereinigt wird [Jes 6,6–7], wird dann nicht die Liebe die Sprache der noch kindlichen Braut, die das Wort überbringen sollte, gereinigt und erhoben haben, so daß sie nicht wie ein Kind und später wie eine Frau, sondern nur und immer als himmlisches Geschöpf sprach, das geformt wurde durch das große Licht und die Weisheit Gottes?
Das Wunder liegt nicht in der höheren Intelligenz, die Maria im kindlichen Alter an den Tag legte, wie später auch ich. Das Wunder liegt in dem Verbergen ei-ner unendlichen Weisheit, in den Einschränkungen, die verhindern sollten, die Menschen zu sehr in Staunen zu versetzen und die Aufmerksamkeit Satans auf sie zu lenken.
Meine Freude,
woher weißt du diese heiligen Dinge? Wer hat sie dir gesagt?
Beitrag 5.1
Dann werde Ich im Tempel sein
Am Ende der Laube sieht man Schnitter, die mit Sicheln das Gras mähen.
Das Kornfeld ist nur mehr ein Stoppelfeld, auf dem sich die Flämmchen der Mohnblumen wiegen, während sich die Kornblumen steif und frei aufrichten, strahlend wie die Sterne in einem Blau, das dem des orientalischen Himmels ähnelt. Aus der schattigen Laube kommt eine ganz kleine, aber schon flinke und selbständige Maria. Ihr kurzer Schritt ist sicher, und die Füße in den wei-ßen Sandälchen stolpern nicht über die Steinchen.
Sie ist weiß wie ein Täubchen in ihrem Leinenkleidchen, das bis zu den Fuß-knöcheln reicht und weit ist. Es ist durch himmelblaue Schnürchen aufgekrem-pelt am Hals und an den kurzen Ärmeln, die die rosigen und molligen Vorder-ärmchen sehen lassen. Mit ihrem seidiges Haar, das honigblond leuchtet, nicht dicht ist, aber sanfte Wellen hat, die in Löckchen enden; mit ihren himmelblau-en Augen und dem lieblichen, leicht geröteten, lächelnden Antlitz gleicht sie einem kleinen Engel. Auch der zarte Wind, der in ihre weiten Ärmel greift und das Linnen ihres Kleidchens an den Schultern bläht, trägt dazu bei, ihr das Aussehen eines Engelchens mit schon zum Flug geöffneten Flügeln zu verlei-hen.
Als sie in die Nähe der Mutter kommt, beginnt sie zu laufen, stößt mit ihrem Stimmchen einen kurzen, freudigen Schrei aus und eilt wie ein Turteltäubchen im Flug an die Knie der Mutter, die sich ein wenig geöffnet haben, um sie zu empfangen. Die Mutter hat ihre Arbeit beiseitegelegt, damit sich das Kind nicht steche. Sie hat ihm die Arme entgegengestreckt, um es zu umarmen.
»Mama, Mama!« Das weiße Täubchen ist nun ganz im Nest der mütterlichen Knie, mit den Füßchen auf dem niedrigen Gras und dem Gesichten im mütter-lichen Schoß. Und man sieht nichts als das blasse Gold ihrer Härchen im fei-nen Nacken, den Anna liebevoll küßt, wozu sie sich niederbeugt. Dann erhebt das Täubchen sein Köpfchen und gibt ihr Blumen. Alle gibt sie der Mutter und zu jeder Blume erzählt sie eine Geschichte, die sie sich selbst erdacht hat:
Ich will immer wie diese Blume sein, und wie der weise König will ich singen das ganze Leben und beten vor dem Zelt.« [1 Kön 8].
»Mein Schatz! Woher weiß du diese heiligen Dinge? Wer hat sie dir gesagt? Dein Vater?« »Nein, ich weiß nicht, wer es ist. Es scheint mir, als ob ich sie immer gewußt hätte. Aber vielleicht ist es einer, der sie mir sagt und den ich nicht sehe. Vielleicht einer der Engel, die Gott schickt, um mit den Menschen zu reden, die gut sind. Mama, erzählst du mir noch mehr davon?«
»Oh, meine Tochter! Von was soll ich dir erzählen?«
Maria denkt nach, ernst und gesammelt.
Dann wählt sie: »Noch einmal die Geschichte von Gabriel und Daniel, in der der Gesalbte versprochen wird« [Dan 9].
Nachdem Anna ihre Erzählung beendet hat, fragt sie: »Wieviel fehlt noch, bis Immanuel kommt?« »Ungefähr noch dreißig Jahre, mein Liebling.« »Oh, wie lange noch!
Beitrag 5.2
Sage mir, wenn ich beten würde, viel, sehr viel, Tag und Nacht, Nacht und Tag, und wenn ich ganz Gottes sein wollte, das ganze Leben lang, würde mir der Ewige dann die Gnade schenken und den Messias seinem Volk schneller ge-ben?«
»Das weiß ich nicht, meine Liebe; der Prophet sagt: siebzig Wochen. Ich glau-be, daß die Prophezeiung nicht irrt. Aber der Herr ist so gut«, beeilt Anna sich hinzuzufügen, als sie sieht, daß sich schon Tränenperlen auf den goldigen Wimpern ihres Kindleins bilden, »daß ich glaube, wenn du viel, viel, viel betest, wird er dich erhören.« Das Lächeln kehrt auf ihr Gesichtchen zurück, das zur Mutter aufschaut, und ein Sonnenstrahl, der zwischen zwei Weinblättchen durchscheint, läßt die Tropfen des schon gestillten Weinens aufleuchten, wie Tautröpfchen an den so feinen Stengelchen des Bergmooses.
»Aber weißt du, was das besagen will?«
»Oh, du Gesegnete! Aber dann wirst du nie Kindlein haben, du, die du die Kin-der so liebst, und die Lämmlein und die Täubchen. Weißt du, ein Kindlein ist für eine Frau wie ein weißes, krauses Lämmlein; wie ein Täubchen mit Flaum-federn aus Seide und einem Korallenmündchen, das man lieben und küssen kann, und das zu einem sagt: „Mama.“«
»Das macht nichts. Ich will Gottes sein. Im Tempel werde ich beten, und dann werde ich vielleicht eines Tages Immanuel sehen. Die Jungfrau, die seine Mut-ter sein wird, muß, wie der große Prophet sagt, schon geboren und im Tempel sein. Ich werde ihre Gefährtin sein und ihre Magd! O ja!
Wenn ich sie nur erkennen könnte im Licht Gottes, ich würde ihr dienen, der Glücklichen! Dann würde sie mir ihren Sohn bringen, und ich würde ihm die-nen. Denke dir, Mama! Dem Messias dienen!«
»Aber wird es mir der König von Israel, der Gesalbte Gottes, erlauben, ihm zu dienen?« »Daran zweifle nicht! Sagt der König Salomon nicht: „Sechzig sind
die Königinnen und achtzig die übrigen Frauen, und die Mädchen sind ohne Zahl?“ [Hld 6,8]. Du siehst, im Palast des Königs werden zahllose Jungfrauen und Mädchen sein, die ihrem Herrn dienen werden.«
»Oh! Siehst du nun, daß ich Jungfrau sein muß? Ich muß es sein, ich muß! Wenn er als Mutter eine Jungfrau haben will, ist das ein Zeichen dafür, daß er die Jungfräulichkeit über alles liebt. Ich will, daß er mich liebt, mich, seine Die-nerin, wegen meiner Jungfräulichkeit; daß er mich ein wenig seiner geliebten Mutter ähnlich macht, das will ich. Ich möchte aber auch Sünderin sein, eine große Sünderin, wenn ich nicht fürchten muß, den Herrn dadurch zu beleidi-gen. Sage mir, Mama, kann man Sünderin sein aus Liebe zu Gott?«
»Aber was sagst du, Schatz? Ich verstehe dich nicht.«
»Ich will sagen: sündigen, um von Gott geliebt zu werden; damit er zum Erlö-ser wird. Man rettet den, der verloren ist, nicht wahr? Ich möchte gerettet wer-den vom Erlöser, um seinem Blick der Liebe zu begegnen. Deswegen möchte ich sündigen; aber ohne eine Sünde zu begehen, die ihm mißfallen könnte.
Anna ist ganz verblüfft. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Da kommt ihr Joa-chim zu Hilfe, der, auf dem Gras schreitend, sich geräuschlos hinter dem Zaun der niederen Weinreben genähert hatte. »Er hat dich schon im voraus gerettet, weil er weiß, daß du ihn liebst und ihn allein lieben willst. Deswegen bist du schon erlöst und kannst Jungfrau sein, wie du es willst«, sagt Joachim.
»Wirklich, mein Vater?« Maria umschlingt seine Knie und blickt ihn an mit den hellen Sternlein ihrer Augen, die den väterlichen Augen so sehr ähneln und die nun glücklich sind in der Hoffnung, die ihr der Vater gegeben hat.
»Wirklich, meine Liebe. Schau! Ich bringe dir hier dieses Spätzlein. Es kam bei seinem ersten Flug zum Quellbrunnen. Ich hätte es sich selbst überlassen können; aber die schwachen Flügel und die Füßchen aus Seide hatten nicht die Kraft, sich zu neuem Flug zu erheben oder sich aufrecht zu erhalten auf dem moosigen, schlüpfrigen Stein. Es wäre in die Quelle gefallen. Ich habe nicht gewartet, bis es soweit kam. Ich habe es genommen und gebe es dir. Tu damit, was du willst! So ist es gerettet worden, bevor es in der Gefahr umge-kommen ist. Dasselbe hat Gott mit dir getan. Jetzt sage mir, Maria: Habe ich das Vöglein mehr geliebt, indem ich es jetzt gerettet habe, oder hätte ich es mehr geliebt, wenn ich es später gerettet hätte.?«
»Du hast es mehr geliebt, indem du es jetzt gerettet hast; denn du hast nicht erlaubt, daß es sich weh tue im kalten Wasser.«
»Und nun werde ich ihn ganz lieben. Ganz! Ganz! Schönes Spätzlein, ich bin wie du. Der Herr hat uns in gleicher Weise geliebt; er gab uns das Heil. Jetzt werde ich dich aufziehen, und dann lasse ich dich fliegen. Und du wirst im Wald und ich im Tempel das Lob des Herrn singen, und wir werden sagen:
Oh, Papa! Wann wirst du mich in den Tempel führen?« »Bald, meine Perle. Aber schmerzt es dich nicht, deinen Vater zu verlassen?« »Sehr! Aber du wirst kommen.! Wenn es mir nicht Schmerz bereiten würde, wäre es dann noch ein Opfer?« »Und wirst du dich unser erinnern?« »Immer. Nach dem Gebet für Im-manuel werde ich für euch beten. Möge Gott euch Freude und ein langes Le-ben schenken, bis zum Tag, da er der Erlöser sein wird.
Dann werde ich ihm sagen, daß er euch nehme, um euch ins himmlische Jeru-salem zu bringen.«
Siehe, die vollkommene Magd,
mit dem Herzen einer Taube
Beitrag 4
Jesus spricht:
»Salomon läßt die Weisheit sagen: „Wer ein Kind ist, komme zu mir!“ [Spr 9,4]. Und wirklich, aus der Festung, aus den Mauern ihrer Stadt sagte die Ewige Weisheit zum Ewigen Kind: „Komm zu mir!“ Sie brannte danach, es zu haben. Später wird der Sohn des reinsten Kindes sagen: „Lasset die Kinder zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich, und wer ihnen nicht ähnlich wird, wird meines Reiches nicht teilhaftig werden.“ Die Stimmen begegnen sich und während die Stimme des Himmels nach der kleinen Maria ruft, „Komm zu mir“, sagt die Stimme des Gottmenschen, indem er an seine Mutter denkt: „Kommt zu mir, wenn ihr versteht, Kinder zu sein.“ Das Beispiel gebe ich euch in mei-ner Mutter.
Sie haben die Jahre der Berührung mit der Welt nicht in die Barbarei eines ver-dorbenen, verschlagenen, lügenhaften Geistes verwildern lassen. Weil sie es nicht will.
Du, die du sie siehst, sage mir: „Ist ihr kindlicher Blick sehr verschieden von dem, den sie hatte zu Füßen des Kreuzes, im Jubel des Pfingstfestes oder in der Stunde, da sich die Lider zum letzten Schlaf über ihre Gazellenaugen schlossen? Nein!
Hier siehst du den unbestimmten, erstaunten Blick des Kindes;
Aber sei es, daß sich die Augen zum ersten Mal öffnen, sei es, daß sie sich müde zum letzten Mal schließen, nachdem sie soviel Freude und soviel Schre-ckliches geschaut, sie sind der heitere, reine und sanfte Saum des Himmels, der immer gleich strahlt unter der Stirne Marias.
Es sind die Augen, die mit Liebe zu Gott aufschauen. Ob sie nun weinen oder lachen, es sind die Augen, die aus Liebe zu Gott liebkosen und verzeihen und alles ertragen. Durch die Liebe zu ihrem Gott sind sie unangreifbar geworden für die Angriffe des Bösen, der sich sooft der Augen bedient, um ins Herz ein-zudringen. Das ist der reine, ruhige, segnende Blick der reinen, heiligen, in Gott verliebten Menschen.“
Ich habe es bereits gesagt: „Das Licht deines Körpers ist das Auge. Wenn das Auge rein ist, wird dein ganzer Körper erleuchtet sein. Wenn aber das Auge trübe ist, so wird deine ganze Person in der Finsternis sein“ [Mt 6,22–23]. Die Heiligen haben dieses Auge gehabt, das dem Geist Licht ist und dem Fleisch Heil. Denn wie Maria haben sie ihr ganzes Leben hindurch auf Gott geschaut und mehr noch: sie haben sich Gottes erinnert!
In drei Jahren wirst auch Du da sein, meine Lilie
Beitrag 3.1
Ich sehe Joachim und Anna zusammen mit Zacharias und Elisabet. Sie kom-men aus einem Haus in Jerusalem, das sicher Freunden oder Verwandten gehört, und begeben sich zum Tempel, um an der Zeremonie der Reinigung teilzunehmen.
Anna hat in ihren Armen das Kindlein, ganz in Windeln gewickelt. Es ist aber auch in ein weites Gewebe aus leichter Wolle gehüllt, das sehr weich und warm sein muß. Und mit welcher Sorge und Liebe sie ihr Kindlein überwacht! Von Zeit zu Zeit hebt sie den Saum des feinen und warmen Gewebes hoch, um zu schauen, ob Maria gut atmen kann, und rückt ihn dann wieder zurecht, um sie vor der eisigen Luft eines zwar heiteren, aber kalten Wintertages zu schützen.
Elisabet hat ein Bündel in den Händen. Joachim zieht an einer Schnur zwei gutgenährte, weiße Schäfchen hinter sich her; es sind schon mehr Schafe als Lämmer. Zacharias hat nichts. Er sieht schön aus in seinem weißen Linnenge-wand, das ein schwerer, wollener Mantel hervorblicken läßt.
Auch Elisabet ist eine reife Frau mit frischem Aussehen, die sich jedesmal, wenn Anna das Kind anschaut, entzückt über das schlafende Gesichtchen neigt. Auch sie ist sehr schön in ihrem blauen, fast dunkelvioletten Gewand, mit dem Schleier, der ihr das Haupt bedeckt und über die Schultern und den Mantel, der noch dunkler ist als das Kleid, herabwallt.
Joachim und Anna aber sind feierlich in ihren Festkleidern. Gegen seine Ge-wohnheit trägt er nicht die kastanienbraune Tunika, sondern ein langes, dun-kelrotes Gewand. Die Fransen an seinem Mantel sind neu und schön. Auf dem Haupt hat auch er eine Art von rechteckigem Schleier, der gehalten wird durch einen Lederreifen. Alles ist neu und fein. Und Anna, oh!, sie trägt heute nichts Dunkles! Sie hat ein hellgelbes Kleid an, das an die Farbe alten Elfenbeins er-innert: eng an der Hüfte, am Hals und an den Handgelenken und von einem schweren Gürtel zusammengehalten, der aus Gold und Silber zu sein scheint. Ihr Kopf ist in einen leichten damastartigen Schleier gehüllt, der an der Stirn von einem feinen, aber kostbaren Metallplättchen festgehalten wird. Am Hals trägt sie eine Kette in Filigran und an den Handgelenken Armbänder.
»Du kommst mir vor wie am Tag der Hochzeit. Ich war etwas mehr als ein Kind, damals, aber ich erinnere mich noch, wie schön und glücklich du warst«, sagt Elisabet. »Aber jetzt bin ich es noch mehr und ich wollte für diese Zere-monie das gleiche Kleid tragen. Ich habe es immer dafür aufbewahrt und ich hoffte schon nicht mehr, daß ich es je hätte tragen können.« »Der Herr hat dich sehr geliebt.« sagt Elisabet mit einem Seufzer. »Deswegen gebe ich ihm auch das Liebste, was ich habe: diese meine Blume.« »Wie wirst du sie dir vom Herzen reißen können, wenn die Stunde kommt?« »Indem ich mich daran erinnere, daß ich sie nicht hatte und Gott sie mir gegeben hat. Ich werde nun immer glücklicher sein als zuvor. Wenn ich sie im Tempel weiß, werde ich mir sagen: „Sie betet in der Nähe des heiligen Zeltes; sie betet zum Gott Israels auch für ihre Mutter“, und ich werde den Frieden haben. Und noch größeren
Frieden werde ich haben, wenn ich mir sage: „Sie ist ganz Sein.“ Wenn die bei-den glücklichen Eltern, die sie vom Himmel erhalten haben, nicht mehr sein werden, wird er, der Ewige, noch ihr Vater sein. Glaube mir: ich bin fest über-zeugt, daß diese Kleine nicht uns gehört. Aus mir konnte ich nichts mehr. Er hat sie in meinen Schoß gelegt, als göttliches Geschenk, um meine Tränen zu trocknen, unsere Hoffnung zu stärken und uns für unsere Gebete zu belohnen. Deswegen gehört sie ihm. Wir sind nur ihre glücklichen Hüter. Und dafür sei ergebenedeit!«
Beitrag 3.2
Sie haben die Tempelmauern erreicht.
»Während ihr zur Pforte des Nikanor geht, melde ich uns dem Priester. Dann werde auch ich kommen«, sagt Zacharias. Er verschwindet durch einen Bo-gen, der in einen großen Hof führt, der von Säulengängen umgeben ist. Die Gruppe steigt weiter auf den sich ablösenden Terrassen empor.
Bevor sie zum festgelegten Ort gelangen, halten sie kurz an, um die mitge-brachten Dinge von ihren Hüllen zu befreien: Fladen, scheint mir, breit und dünn und stark ölgetränkt; weißes Mehl, zwei Tauben in einem Käfig aus Wei-denruten und große silberne Münzen.
Sieh, da ist die schöne Pforte des Nikanor, voller Schnörkelwerk in schwerer Bronze und mit Silber platten. Dort steht schon Zacharias an der Seite eines Priesters, würdevoll in seinem Linnengewande.
Anna wird mit Wasser, offenbar Weihwasser, besprengt und aufgefordert, sich dem Opferaltar zu nähern. Das Kindlein ist nicht mehr auf ihren Armen. Elisabet hat es genommen; sie bleibt vor der Pforte zurück. Joachim hingegen tritt hinter seiner Gemahlin ein: er zieht ein unglückliches, blökendes Schäflein hinter sich her.
Nun ist Anna gereinigt.
Zacharias flüstert seinem Kollegen etwas zu und dieser nickt lächelnd, schließt sich dann der Gruppe an, die sich draußen wieder versammelt hat, beglück-wünscht Vater und Mutter zu ihrer Freude und zu ihrem Vertrauen gegenüber den Verheißungen und nimmt das zweite Lamm mit dem Mehl und dem Ku-chen in Empfang.
»Diese Tochter ist also dem Herrn geweiht? Sein Segen sei mit ihr und mit euch. Sieh, da kommt Hanna. Sie wird eine ihrer Lehrerinnen sein. Hanna, die Tochter des Penuël, vom Stamm Ascher. Komm, Frau! Diese Kleine ist dem Tempel als Lobopfer geweiht worden. Du wirst ihre Lehrerin sein, und sie wird unter deiner Führung heilig heranwachsen.«
Die schon ganz weißhaarige Hanna des Penuël liebkost das Kindlein, das er-wacht ist und mit seinen unschuldigen und erstaunten Äuglein all das Weiß und das Gold betrachtet, das die Sonne aufleuchten läßt.
»Ich möchte diese Gabe dem Tempel darbringen und dorthin gehen, wo ich im vergangenen Jahr das Licht gesehen habe«, sagt Anna. Sie gehen hin in Be-gleitung der Hanna des Penuël.
Aber nahe an der halbgeöffneten Tür stehend, blicken sie in das halbdunkle Innere, wo die lieblichen Gesänge eines Mädchenchors erklingen, und kostba-re Leuchter goldenes Licht verbreiten über zwei Reihen weiß verhüllter Köpf-chen: zwei wahre Lilienbeete.
»In drei Jahren wirst auch du da sein, meine Lilie« spricht Anna zu Maria, die wie fasziniert ins Innere schaut und zu dem leisen Gesang lächelt.
»Sie scheint zu verstehen«, sagt Hanna des Penuël. »Sie ist ein schönes Kind! Sie wird mir teuer sein, als wäre sie mein eigenes. Ich verspreche es dir, Mut-ter. Möge nur mein Alter erlauben, daß es so sei.« »Es wird so sein, Frau«, sagt Zacharias. »Du wirst sie aufnehmen unter die geweihten Mädchen. Ich werde auch dabei sein. Ich will an jenem Tag hier sein, um ihr zu sagen, daß sie für uns alle beten soll, vom ersten Tag an.«
Die Zeremonie ist zu Ende, und Hanna des Penuël zieht sich zurück, während die anderen, sich unterhaltend, den Tempel verlassen.
»Nicht nur zwei, und zwar die besten, sondern alle meine Schäflein hätte ich gerne hergegeben für diese Freude und zum Lob Gottes!«
Ihre Seele erscheint schön und unbefleckt, wie der Vater sie ersann!
Beitrag 2.1
Jesus spricht:
»Steh auf und beeile dich, kleine Freundin! Ich habe ein brennendes Verlan-gen, dich mit mir in das paradiesische Blau der Betrachtung der Jungfräulich-keit Marias zu führen. Du wirst daraus hervorgehen mit frischer Seele, als wä-rest du soeben vom Vater erschaffen worden; eine kleine Eva, die das Fleisch noch nicht kennt. Du wirst daraus hervorgehen mit einem Geist voller Licht und betrachtend dich versenken in das Meisterwerk Gottes. Du wirst daraus her-vorgehen mit deinem ganzen Sein, überfließend von Liebe: denn du wirst begreifen, wie groß die Liebe Gottes ist.
Von der Empfängnis Marias, der Makellosen, sprechen, will heißen: untertau-chen im Himmelsblau, im Licht, in der Liebe. Komm und lies ihre Herrlichkei-ten im Buch des Vorfahren!
„Der Herr schuf mich, seines Waltens Erstling, als Anfang seiner Werke, vor-längst. Von Ewigkeit her bin ich gebildet, von Anbeginn, vor dem Ursprung der Welt. Noch ehe die Meere waren, ward ich geboren, noch vor den Quellen, reich an Wasser. Bevor die Berge eingesenkt wurden, vor den Hügeln ward ich geboren, ehe er die Erde gemacht und die Fluren und die ersten Schollen des Erdreichs. Als er den Himmel baute, war ich dabei, als er das Gewölbe abste-ckte über der Urflut, als er die Wolken droben befestigte und die Quellen der Urflut stark machte, als er dem Meer seine Schranke setzte, daß die Wasser seinem Befehle gehorchten, als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich als Liebling ihm zur Seite, war lauter Entzücken Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit, spielte auf seinem Erdenrund und hatte mein Ergötzen an den Men-schenkindern.“ [Spr 8,22–31]
Ihr habt diese Worte auf die Weisheit bezogen, aber sie sprechen von ihr: der schönen Mutter, der heiligen Mutter, der jungfräulichen Mutter der Weisheit, die ich bin, der ich mit dir rede. Ich wollte, daß du den ersten Vers dieses Hymnus, der von ihr spricht, an den Anfang des Buches setztest, damit man erkennt und anerkennt, daß sie der Trost und der Ruhm Gottes, die Ursache der bestän-digen, vollkommenen und innigen Freude dieses Dreieinigen Gottes ist, der euch regiert und liebt und dem der Mensch so viel Anlaß zur Traurigkeit gibt; sie ist der Grund, weshalb er das Menschengeschlecht weiter bestehen ließ, damals, als es nach der ersten Prüfung verdiente, vernichtet zu werden; sie ist der Grund der Vergebung, die ihr erhalten habt.
Oh, es lohnte sich, den Menschen zu erschaffen, ihn leben zu lassen und ihm zu verzeihen, um die schöne Jungfrau, die heilige Jungfrau, die unbefleckte
Jungfrau, die von der Liebe erfüllte Jungfrau, die geliebte Tochter, die reinste Mutter, die zärtliche Braut zu besitzen!
So viel hat Gott und noch viel mehr hätte er euch gegeben, nur um das Ge-schöpf seines Entzückens, die Sonne seiner Sonne, die Blume seines Gar-tens zu besitzen. Und immer wieder fährt er fort, euch ihretwegen zu beschen-ken, auf ihre Bitten hin, zu ihrer Freude, weil ihre Freude sich vereinigt mit der Freude Gottes und sie erhöht mit dem funkelnden Glanz, der das große Licht des Paradieses erfüllt; und jedes Funkeln ist ein Geschenk an das Universum, an das Menschengeschlecht, ja an die Seligen selbst, die mit einem jauch-zenden Halleluja auf jedes göttliche Wunder antworten, das gewirkt wird durch den Wunsch des Dreieinigen Gottes, das strahlende Lächeln der Jungfrau zu sehen!
Beitrag 2.2
Jesus spricht:
Gott wollte dem Universum, das er aus dem Nichts erschaffen hatte, einen Kö-nig geben; einen König, der das oberste Wesen sein sollte unter allen aus der Materie erschaffenen und selbst materiellen Wesen; einen König, der etwas weniger als göttlich sein sollte in seiner geistigen Natur, vereinigt in seiner Un-schuld mit der Gnade wie am ersten Tag. Doch der höchste Geist, der alles, was in den fernsten Zeiten geschieht, kennt; der unmittelbar alles weiß, was war, was ist und was sein wird; der, während er das Vergangene betrachtet und die Gegenwart beobachtet, seinen Blick auch auf die fernste Zukunft rich-tet; der weiß, welchen Todes der letzte Mensch sterben wird – und das alles ohne Verwirrung und Unterbrechung – dieser höchste Geist wußte stets, daß der von ihm vorhergesehene und erschaffene König, der zu seiner Seite im Himmel halb-göttlich sein sollte, Erbe des Vaters, der nach der Kindheit seines irdischen Aufenthaltes als Erwachsener in sein Reich kommen sollte – der höchste Geist wußte stets und sah voraus, daß dieses Geschöpf gegen sich selbst das Verbrechen, die Gnade in sich zu töten und sich des Himmels zu berauben, begehen würde.
Gewiß stellen sich viele diese Frage.
Als wollten sie euch sagen: „Vergeßt eure Beschränktheit, laßt alle eure ge-schriebenen Werke beiseite, die angefüllt sind mit dunklen, faulenden, schmut-zigen, giftigen, lügenhaften, gotteslästerlichen, verdorbenen Dingen!
Es ist harmonischer als jedes Orgelstück in den Kathedralen: das Wort, das wir leuchtend geschrieben haben: das Wort, das wir voller Liebe geschrieben ha-ben; denn immer ist uns jener gegenwärtig, der uns die Freude des Seins
schenkte, und wir danken ihm, uns das Dasein geschenkt zu haben, das Licht, das Leben, das Frei-Sein und das Schön-Sein inmitten der erquickenden Bläue, über die hinaus wir noch ein erhabeneres Blau sehen: das Paradies, und erfüllen den zweiten Teil seines Liebesgebotes, indem wir euch, unseren Nächsten im Universum, lieben; wir lieben euch und geben euch darum Füh-rung und Licht, Wärme und Schönheit. Vernehmt das Wort, das wir euch sa-gen und dem gemäß wir unsere Melodie, unser Strahlen und unsere Freude ausrichten:
Beitrag 2.3
Jesus spricht:
Alles Worte, die mit dem Rauschen der Seide, mit dem heiteren Lachen der Kinder, mit dem Seufzen der Alten und den Schlägen, den Stößen, dem Brül-len und dem Donnern der Gewalt immer wieder reden und sagen: „Gott“.
Das Meer wurde für euch erschaffen, ebenso wie der Himmel und die Sterne. Und mit dem Meer die Seen, die Flüsse, die Teiche, die Bäche und die reinen Quellen, die alle dazu dienen, euch zu tragen, euch zu nähren, euren Durst zu stillen und euch zu reinigen. Sie dienen euch, indem sie dem Schöpfer dienen, ohne über die Ufer zu treten und euch zu überfluten, wie ihr es verdientet.
Zu seiner Freude benötigte Gott sie nicht; er hat keine Bedürfnisse. Er genügt sich selbst. Er braucht sich nur zu betrachten, um sich zu ergötzen und zu er-nähren, um zu leben und zu ruhen. Die ganze Schöpfung hat die Unendlichkeit seiner Freude, seiner Schönheit, seines Lebens und seiner Macht nicht im ge-ringsten erhöht. Vielmehr hat er alles für sein Geschöpf gemacht, das er zum König über das von ihm geschaffene Werk setzen wollte: den Menschen.
Ihr müßt ihm dankbar sein dafür, daß ihr lebt. Und ihr hättet es sein müssen, auch wenn er euch erst am Ende der Welt erlöst hätte; denn, obwohl eure
Vorfahren die Gebote nicht befolgt haben und hochmütig, genußsüchtig und Mörder gewesen sind und auch ihr ebenso lebt, gestattet euch Gott immer noch, euch an dem Guten und dem Schönen im Universum zu erfreuen. Er behandelt euch, als ob ihr gute Menschen und gute Söhne wäret, denen alles gezeigt und zugestanden wird, um ihr Leben angenehmer und gesünder zu gestalten.
Beitrag 2.4
Jesus spricht:
Die anderen Erkenntnisse und Erfindungen, die das Zeichen des Bösen tra-gen, kommen vom höchsten Bösen, vom Satan.
Der höchste Geist, dem nichts unbekannt bleibt, wußte schon vor der Erschaf-fung des Menschen, daß dieser aus eigenem Willen Dieb und Mörder gewor-den wäre. Da aber die ewige Güte Gottes ohne Grenzen ist, dachte Gott, noch bevor die Sünde begangen wurde, an ein Mittel, um die Schuld wiedergutzu-machen.
Alle Dinge sind geschaffen worden für mich, den geliebten Sohn des Vaters.
Als König hätte ich unter meinen Füßen Teppiche und Kleinodien haben müs-sen, wie kein Königspalast sie je gehabt hat; Lieder und Stimmen, Knechte und Diener hätten mich umgeben müssen, wie keinen Herrscher je zuvor, und Blumen und Perlen und alles Erhabene, Großartige und Liebliche, das aus dem Gedanken Gottes entspringen kann.
Aber ich sollte auch Fleisch sein, nicht nur Geist:
... um es in den Himmel zu tragen, viele Jahrhunderte vor der Zeit. Das vom Geist bewohnte Fleisch ist das Meisterwerk Gottes, und für dieses ist der Him-mel erschaffen worden.
Und sieh da, Gott schuf sich eine Braut und sagte zu ihr: „Folge mir! An meiner Seite wirst du sehen, was ich für unseren Sohn tue. Schau und juble, ewige Jungfrau, ewige Tochter. Dein Lachen erfülle dieses Reich, gebe den Engeln den Ton an und lehre das Paradies die himmlische Harmonie! Ich schaue auf dich. Ich sehe dich schon, wie du sein wirst, o unbefleckte Frau, die du jetzt nur Geist bist: Gedanke, an dem ich mein Wohlgefallen finde. Ich schaue auf dich und gebe das Blau deiner Augen dem Meer und dem Firmament; die Far-be deiner Haare dem heiligen Korn; das reine Weiß und das Rosa, die Farben deiner seidenen Haut, der Lilie und der Rose; als Vorbild für die Perlen nehme ich deine feingearbeiteten Zähne; die süßen Erdbeeren bilde ich mit einem Blick auf deinen Mund; den Nachtigallen lege ich deine Stimme in die Kehle und den Turteltauben dein Klagen und indem ich deine künftigen Gedanken lese und das Klopfen deines Herzens höre, habe ich ein Leitmotiv für meine Schöpfung.
Komm, meine Freude, bewohne die Welten zum Zeitvertreib, solange du noch tanzendes Licht meines Gedankens bist. Die Welten sind da für dein Lachen. Bewohne die Kränze der Sterne und die Ketten der Gestirne.
Für dich sind die Sterne und Planeten erschaffen worden. Komm und erfreue dich an den Blumen, die deinem Kind zum Spielzeug und dem Sohn deines Schoßes zum Kissen dienen werden! Komm und schau, wie ich die Lämmer bilde, die Adler und die Tauben! Sei mir nahe, während ich die Schalen der Meere und die Betten der Flüsse erschaffe, die Berge erhebe und sie bema-le mit Schnee und Wäldern; während ich das Getreide säe und die Bäume und den Weinstock bilde: die Olivenbäume für dich, meine Friedensträgerin und den Weinstock für dich, meine Rebe, die die eucharistische Traube tragen wird.
Eile, fliege, juble, meine Schöne, und lehre die ganze Welt, die von Stunde zu Stunde erschaffen wird, mich zu lieben, du Liebevolle; die Welt soll schöner werden durch dein Lächeln, o Mutter meines Sohnes, du Königin meines Para-dieses, du Liebe deines Gottes!“
Und während ich den Irrtum sehe und zugleich die Makellose vor Augen habe, rufe ich aus: „Komm zu mir, die du die Bitterkeit des menschlichen Ungehor-sams, der menschlichen Unzucht mit Satan und der menschlichen Undank-barkeit auslöschest, mit dir werde ich Vergeltung üben an Satan.“
Beitrag 2.5
Jesus spricht:
Gott, der Vater und Schöpfer, hatte Mann und Frau mit einem so vollkomme-nen Gesetz der Liebe erschaffen, daß ihr diese Vollkommenheit nicht einmal mehr verstehen könnt. Und ihr denkt ohne Erfolg darüber nach, was wohl mit dem Menschengeschlecht geschehen wäre, wenn der Mensch nicht die Leh-ren Satans angenommen hätte.
Schaut auf die Frucht- und Samenpflanzen!
Nein! Von der männlichen Blüte geht der Blütenstaub aus und geführt von einem Komplex meteoritischer und magnetischer Gesetze gelangt er zum Fruchtknoten der weiblichen Blüte. Dieser öffnet sich, nimmt ihn auf und bringt Frucht. Die weibliche Blüte beschmutzt sich nicht und weist ihn nicht ab, wie ihr es nur tut, um tags darauf wiederum dasselbe Lustgefühl kosten zu können. Sie trägt Frucht; und bis zum nächsten Jahr bringt sie keine Blüte hervor, und wenn sie dann blüht, ist es wieder, um Frucht zu tragen.
Betrachtet die Tiere, alle!
Nein. Von nah und fern, fliegend und kriechend, springend und laufend, gehen sie, wenn es Zeit ist, zum Befruchtungsritus und entziehen sich ihm nicht, in-dem sie nur die Befriedigung ihrer Lust suchen; sie übernehmen ohne weiteres die ernste und heilige Verantwortung für die Nachkommenschaft.
Diesen alleinigen Zweck muß der Mensch, der Gott ähnlich ist aufgrund des göttlichen Ursprungs einer Gnade, die ich ihm voll und gänzlich geschenkt habe, annehmen in der Ausübung des notwendigen animalischen Aktes, seit ihr um einen Grad in Richtung des Tierreiches herabgesunken seid. Ihr handelt nicht wie die Pflanzen und die Tiere.
Aber wenn ihr Gott treu geblieben wäret, hättet ihr den Kindersegen in heiliger Weise erlebt, ohne Schmerzen und ohne euch in unanständigen, unwürdigen Vereinigungen zu entkräften, die selbst den Tieren unbekannt sind; den Tieren ohne vernünftige und geistige Seele.
Sie gebar, ohne einen Mann gekannt zu haben: Blume, die die Blume gebiert, ohne der natürlichen Befruchtung zu bedürfen, einzig durch den Kuß der Son-ne auf den unangetasteten Kelch der Lilie:
Beitrag 2.6
Jesus spricht:
Mache nur, Satan, deinem Haß Luft, während sie geboren wird! Dieses Kind hat dich besiegt! Noch bevor du zum Rebellen wurdest, zum Schleicher, zum Verderber, warst du schon besiegt, und sie ist deine Besiegerin! Tausend zur Schlacht gerüstete Heere vermögen nichts gegen deine Macht. Die Waffen der Menschen vermögen nichts gegen deinen Panzer, o ewiger Verführer, und es gibt keinen Wind, der den Gestank deines Atems wegwehen könnte. Und den-noch: Diese Kindesferse, die rosig ist wie das Innere einer rötlichen Kamelie; die glatt und weich ist, daß die Seide rauh ist im Vergleich zu ihr; die so klein ist, daß sie in den Kelch einer Tulpe paßt und sich daraus Schühlein machen könnte; sieh, sie nähert sich dir ohne Furcht und sie wird dich in deine Höhle jagen.
Ihr Klagen schlägt dich in die Flucht, dich, der du die Heere nicht fürchtest, und ihr Atem reinigt die Welt von deinem Gestank. Du bist besiegt! Ihr Name, ihr Blick, ihre Reinheit sind Lanze, Blitz und Stein, die dich durchbohren, die dich niederschmettern, die dich einschließen in dein Höllenloch, o Verfluchter, der du Gott die Freude genommen hast, Vater aller erschaffenen Menschen zu sein! Nun aber hast du sie vergebens verdorben, sie, die unschuldig erschaf-fen worden sind. Du hast sie verführt zur Vereinigung und Empfängnis auf den Irrwegen der Fleischeslust; du hast Gott daran gehindert, seinem geliebten Geschöpf der Spender von Kindern zu sein nach Regeln, die, wenn sie beach-tet worden wären, auf Erden ein Gleichgewicht erhalten hätten unter den Ge-schlechtern und den Rassen, wodurch Kriege unter den Völkern und Zwietracht in den Familien vermieden worden wären.
Vielmehr: nur im Gehorsam hätten sie die wahre Liebe verstanden und erhal-ten: den vollen und ruhigen Besitz dieses Ausflusses Gottes, der vom Überna-türlichen herabkommt zum Niedrigeren, damit auch das Fleisch darob heilig jubiliere; das Fleisch, das dem Geist verbunden ist und von demselben ge-schaffen wurde, der dem Fleisch eine Seele gegeben hat.
Entweder Sinnenlust, bemäntelt mit Liebe, oder unheilbare Furcht, die Liebe des Gatten zu verlieren durch eigene oder anderer Menschen Unzucht. Seit die Sinnenlust in der Welt herrscht, seid ihr nie sicher, das Herz des Gemahls oder der Gemahlin zu besitzen. Ihr zittert, weint und werdet wahnsinnig vor Ei-fersucht; manchmal Mörder, um einen Verrat zu rächen; verzweifelt bisweilen, werdet willenlos in gewissen Fällen und wahnsinnig in anderen.
Die, welche du ins Verderben gestürzt hast, hätten die Freude erlebt, Kinder ohne Schmerzen zu gebären, und die Freude, geboren zu werden ohne die Angst, sterben zu müssen.
Von nun an wird jeder, der Sie liebt, zu Gott zurückfinden; er wird jeder deiner Versuchungen widerstehen und die volle Reinheit bewahren können. Von jetzt an werden die Mütter, die nicht ohne Schmerzen gebären können, Sie zur Hel-ferin haben. Von jetzt an werden die Eheleute Sie als Führerin und die Sterben-den Sie als Mütter haben; denn der Tod wird süß in ihren Armen, die Schutz und Schild gegen dich, den Verfluchten, sind.
Beitrag 2.7
Jesus spricht:
Maria Valtorta, du kleine Stimme, du hast die Geburt des Sohnes der Jungfrau und den Eingang seiner Mutter in den Himmel gesehen. Du hast gesehen, daß den Schuldlosen weder Geburtswehen noch Todesschmerzen bekannt sind.
Und so, wie der unbefleckten Mutter Gottes die himmlischen Gaben vorbehal-ten waren, so wären allen, wenn sie wie die ersten Kinder Gottes unschuldig geblieben wären, Geburtswehen und Todesangst erspart geblieben.
Der erhabene Sieg Gottes über Satans Rache bestand darin, die Vollkommen-heit des erwählten Geschöpfes so zu steigern, daß wenigstens in Einer der Hauch jener menschlichen Schwäche, die dem Gift des Satans Einlaß vers-chafft, nichtig wurde; und somit sollte der Sohn nicht aus einer menschlichen Vereinigung, sondern aus der göttlichen Umarmung, die den Geist im Feuer der Ekstase verzückt, hervorgehen.
Komm und er wäge diese tiefe Jungfräulichkeit, bei deren Betrachtung sich schwindelerregende Abgründe eröffnen!
Weniger als nichts!
Sie läßt viele zügellose, unreine Gedanken in ihren Geist eintreten, spielt mit diesen und läßt sich von menschlichen Vorstellungen liebkosen! Das ist nur ein Larvenstadium der Jungfräulichkeit.
Viel, doch ist sie nie so vollkommen wie die meiner Mutter!
Eine Bindung ist immer vorhanden gewesen, selbst beim Heiligsten: jene zwi-schen Geist und Schuld; jene, die nur die Taufe zu lösen vermag. Sie löst sie; doch wie eine Frau, die durch den Tod von ihrem Mann getrennt wird, nicht die ganze Jungfräulichkeit wiederfindet, so gibt die Taufe nicht diese vollkommene Jungfräulichkeit zurück, die unseren Stammeltern vor der Sünde zu eigen war. Eine Narbe bleibt und schmerzt und bringt das Frühere in Erinnerung, und die einstige Wunde ist stets bereit, wieder aufzubrechen, wie gewisse Krankheiten periodisch durch ihre Viren neu entfacht werden.
Ihre Seele erscheint schön und unberührt wie damals,
als der Vater sie erdachte und in ihr alle Gnaden vereinigte.
Sie ist die Jungfrau. Sie ist ein Abgrund der Unberührtheit, der Reinheit, der Gnade, der sich verliert im Abgrund, aus dem sie stammt: Gott.
Unberührtheit, Reinheit, vollkommenste Gnade. Sieh, so rächt sich Gott, der Dreieinige. Gegen alle entheiligten Geschöpfe erhebt er diesen Stern der Voll-kommenheit. Gegen die ungesunde Neugierde erhebt er diese heilige Scheu, die allein in der Liebe Gottes Befriedigung findet.
Dem Wissen um das Böse stellt Er diese erhabene Unwissende gegenüber.
Ein Feuer, welches das Fleisch mit Eis panzert, damit es der durchsichtige Spiegel sei am Altar, wo Gott sich mit einer Jungfrau vermählt und sich den-noch nicht erniedrigt; denn seine Vollkommenheit umarmt jene, die, wie es einer Braut geziemt, nur in einem Punkt niedriger ist als der Bräutigam: Sie ist Ihm unterworfen als Frau, aber ohne Makel wie Er.«
Geburt der Jungfrau Maria
Beitrag 1.1
Obwohl der Garten schattig ist, ist die Luft doch glühend heiß, ja erdrückend. Eine Luft, die man zerschneiden könnte wie einen weichen Teig, so dicht scheint sie zu sein unter dem erbarmungslos blauen Himmel. Es muß schon seit längerer Zeit nicht mehr geregnet haben, denn die Erde ist dort, wo sie nicht bewässert wird, buchstäblich zu feinstem, fast weißem Staub geworden. Das Weiß neigt leicht zu einem schmutzigen Rosa, während der Boden dort, wo er bewässert wird, dunkelbraun bis rot ist; so am Fuß der Bäume, längs der
kleinen Beete, auf denen reihenweise Gemüse wächst, und um die Rosenstö-cke, den Jasmin und andere Blumen und Blümchen, die es besonders vorne gibt und entlang der schönen Laube, die den Gemüsegarten in zwei Teile teilt, bis zum Beginn der Felder, deren Hafer schon geerntet worden ist. Auch das Gras am Rand des Besitztums ist trocken und spärlich. Nur am äußersten En-de, dort wo sich eine Hecke aus wildem Weißdorn befindet, der schon fast ganz der Rubine seiner kleinen Früchte beraubt ist, dort ist das Gras grüner und dichter, und dort weiden, bewacht von einem Hirtenknaben, einige Schafe auf der Suche nach Futter und Schatten.
Joachim macht sich an den Beeten und an den Olivenbäumen zu schaffen. Er hat zwei Männer um sich, die ihm helfen. Wenn er auch schon alt ist, so ist er dennoch flink und arbeitet mit Freude. Sie öffnen kleine Dämme an den Gren-zen eines Feldes, um den durstigen Bäumen Wasser zuzuleiten und das Was-ser bahnt sich einen Weg, plätschert zwischen Kräutern und trockener Erde dahin und breitet sich in den Wendungen aus, die für einen Augenblick gelbes Kristall zu sein scheinen, dann aber zu dunklen Rinnen feuchter Erde werden, rings um die Rebstöcke und die schwerbeladenen Olivenbäume.
Langsam geht Anna durch die schattige Laube, unter der goldgelbe Bienen gierig nach dem Saft der blonden Beeren fliegen, auf Joachim zu, der ihr, so-bald er ihrer ansichtig wird, entgegeneilt. »Bis hierher bist du gekommen?«
»Das Haus ist heiß wie ein Ofen.« »Und du leidest darunter.« »Das Leiden der letzten Stunden einer Schwangeren. Es ist das Leiden aller: Menschen und Tiere. Erhitze dich nicht zu sehr, Joachim!« »Der so lange erwartete Regen, der seit drei Tagen schon nahe scheint, ist noch nicht gekommen, und die Flur verbrennt. Es ist gut für uns, daß die Quelle so nahe ist, und so reich an Was-ser. Ich habe die Kanäle geöffnet. Eine kleine Erleichterung für die Bäume
mit ihren welken und staubbedeckten Blättern; aber genug, um sie am Leben zu erhalten. Wenn es nur regnete!«
Joachim blickt mit der Sorge des Landwirts forschend zum Himmel auf, wäh-rend Anna sich müde Luft zufächelt mit einem getrockneten Palmblatt, das von vielfarbigen Fäden, die es steif halten, durchflochten ist. Die Verwandte sagt: »Dort, jenseits des hohen Hermon steigen schnell dahinziehende Wolken auf. Nordwind; er bringt Frische und vielleicht etwas Regen.« »Seit drei Tagen weht er so; aber dann läßt er beim Aufgehen des Mondes wieder nach. So wird es auch heute sein«, sagt Joachim entmutigt. »Kehren wir ins Haus zu-rück. Auch hier kann man nicht atmen.« sagt Anna, die aufgrund einer Blässe, die ihr Gesicht befallen hat, olivenfarbiger als gewöhnlich erscheint. »Hast du Schmerzen?« »Nein.
Beitrag 1.2
Ich habe dich lieb, Joachim und als ich in dein Haus einzog und mir sagte: „Ich bin die Braut eines Gerechten“, hatte ich ein Gefühl des Friedens und eben-falls, sooft deine tätige Liebe sich um deine Anna sorgte.
Aber der jetzige Friede ist von anderer Art. Schau: ich glaube, daß es ein Frie-de ist, wie der sich ölartig ausbreitende und lindernde Friede, den der Geist Jakobs, unseres Vaters, nach seinem Traumgesicht von den Engeln empfand [Gen 28,12]; oder besser noch: er ähnelt dem freudigen Frieden der beiden Tobias, nachdem Rafael sich ihnen geoffenbart hatte [Tob 12]. Je mehr ich mich in ihn vertiefe und ihn genieße, um so mehr wächst er.
Ich weiß nicht warum, aber seit ich in mir diese friedliche Freude habe, verneh-me ich einen Gesang in meinem Herzen: den des alten Tobias [Tob 13,1-13]. Mir ist, als sei er für diese Stunde geschrieben worden, für diese Freude, für das Land Israel, dem sie zuteil wird, für Jerusalem, die Sünderin, der nun ver-ziehen wird, aber, lächelt nur über das irre Reden einer Mutter, aber wenn ich sage: „Danke dem Herrn für seine Wohltaten und preise den Herrn, den Ewi-gen, damit er in dir sein Zelt wieder erbaue!“, dann denke ich, daß der, der in Jerusalem das Zelt des wahren Gottes wieder erbauen wird, das Geschöpf ist, das bald geboren wird.
Ich meine auch, daß nicht so sehr von der heiligen Stadt als vielmehr von mei-nem Kind das Schicksal vorausverkündet wird, wenn es im Lobgesang heißt: „Du wirst in hellem Licht erstrahlen, alle Völker der Erde werden sich vor dir nieder werfen, die Nationen werden zu dir kommen und dir Geschenke brin-gen, sie werden in dir den Herrn anbeten und dein Land heilig heißen; denn in dir werden sie den Großen Namen anrufen. Du wirst glücklich sein in deinen Söhnen, denn alle werden gesegnet sein und sich um den Herrn versammeln. Selig, die dich lieben und sich an deinem Frieden erfreuen!“ Und die erste, die sich freut, bin ich selbst, die selige Mutter.«
Anna entflammt sich bei diesen Worten und wechselt mehrmals Farbe wie ein Wesen, das aus dem Mondlicht zu einem großen Feuer getragen wird und um-gekehrt. Sanfte Tränen rollen ihr über die Wangen herab; sie beachtet sie nicht in ihrer Freude. Inzwischen kehrt sie zwischen dem Gemahl und ihrer Verwand-ten, die beide bewegt schweigen und lauschen, zum Haus zurück.
Sie beeilen sich, denn die Wolken, die von einem starken Wind getrieben wer-den, kommen rasch näher und breiten sich am Himmel aus, und die Ebene wird dunkel und erschaudert in der Ankündigung des Gewitters.
Als sie an der Schwelle des Hauses ankommen, durchfurcht ein erster hellzu-ckender Blitz den Himmel und das Grollen des Donners ertönt wie das Schmet-tern einer riesigen Pauke, das sich in das Trommeln der ersten Tropfen auf die dürren Blätter mischt.
Alle treten ein, und Anna zieht sich zurück, während Joachim, von seinen Hel-fern eingeholt, an der Türe über den so lange erwarteten Regen zu sprechen beginnt, der ein wahrer Segen für das durstige Land ist. Aber die Freude ver-wandelt sich in Furcht, denn es kommt ein heftiges Unwetter mit Blitzen und hagelbeladenen Wolken. »Wenn die Wolke platzt, werden die Weinstöcke und die Olivenbäume wie im Mörser zerstampft. Wir Ärmsten!«
Noch eine andere Angst befällt Joachim:
Die Verwandte versichert ihm, daß Anna tatsächlich nicht leidet. Aber er bleibt unruhig, und jedes Mal, wenn die Verwandte oder andere Frauen, unter denen sich auch die Mutter des Alphäus befindet, aus der Kammer Annas heraus-kommen und mit warmem Wasser, Decken und Linnen, die sie am hellflack-ernden Feuer der geräumigen Küche erwärmt haben, dorthin zurückkehren, geht er hin und erkundigt sich, läßt sich aber durch ihre Versicherungen nicht beruhigen. Auch das Fehlen von Schmerzensschreien macht ihm Sorge. Er sagt: »Ich bin ein Mann und habe nie eine Geburt gesehen; aber ich erinnere mich gehört zu haben, daß das Fehlen von Geburtswehen verhängnisvoll ist.«
Die Nacht bricht infolge des außergewöhnlich heftigen Gewitters verfrüht her-ein. Wassergüsse, Winde, Blitze, alles stellt sich ein; doch nicht der Hagel, der sich anderswo entladen hat.
Einer der Burschen weist auf die Heftigkeit des Gewitters hin und bemerkt: »Es scheint, daß Satan mit all seinen Dämonen aus der Hölle herausgekommen ist. Schau, welch schwarze Wolken! Riechst du, welch ein Schwefelgeruch in der Luft liegt und hörst du das
Pfeifen und Zischen, die Klagestimmen und die Flüche? Wenn er es ist, dann rast er heute Abend ganz schön!« Der andere Bursche lacht und sagt: »Es muß ihm eine große Beute entgangen sein, oder Michael hat ihn mit einem neuen Blitz Gottes getroffen und ihm Hörner und Schwanz abgeschnitten und verbrannt.«
Eine Frau kommt und ruft:
Und sie verschwindet wieder mit einem Krüglein in der Hand.
Beitrag 1.3
Das Unwetter bricht in sich zusammen nach einem lauten und so heftigen Blitz-schlag, daß es die drei Männer gegen die Wand wirft und an der Frontseite des Hauses im Boden des Gartens zur Erinnerung ein schwarzes, rauchendes Loch bleibt.
Während im Zimmer Annas ein Wimmern hörbar wird, das dem Klagen eines Turteltäubchens gleicht, das zum ersten Mal nicht mehr piepst, sondern gurrt,
breitet ein gewaltiger Regenbogen seinen Halbkreis über die ganze Breite des Himmels aus. Er steigt auf oder scheint wenigstens aufzusteigen von der Höhe des Hermon aus, der, von einem Sonnenstrahl geküßt, wie ein Alabasterblock in zartestem Rosaweiß leuchtet und sich in den klaren Septemberhimmel er-hebt. Dann durchzieht der Farbenbogen die von aller Unreinheit gesäuberten Himmelsräume, überfliegt die Hügel von Galiläa und die Ebene, die im Süden zwischen zwei Feigenbäumen sichtbar wird, dann noch einen anderen Berg und scheint sich am äußersten Horizont niederzulassen, dort, wo eine graue Gebirgskette jede weitere Aussicht versperrt.
»Ein nie gesehenes Schauspiel!« »Schaut, schaut!« »Es scheint, als werde ganz Israel in einen Kreis zusammengeschlossen und nun schaut, da er-scheint ein Stern, während die Sonne noch nicht verschwunden ist. Welch ein Stern! Er leuchtet wie ein gewaltiger Diamant!« »Und der Mond dort, ein Voll-mond, obwohl noch drei Tage bis dahin fehlen. Aber seht, wie er strahlt!«
Und sieh, nun ist sie wieder in den Windeln und auf den Armen des irdischen Vaters, dem sie ähnelt. Eigentlich noch nicht.
Die Frauen sprechen noch vom Gewitter und von dem Wunder des Mondes, des Sternes, des ungeheuren Regenbogens, während sie mit Joachim hinein-gehen zur glücklichen Mutter und ihr das Kindlein wiederbringen. Anna lächelt in Gedanken und spricht: »Sie ist der Stern. Ihr Zeichen ist am Himmel er-schienen. Maria, der Regenbogen des Friedens! Maria, mein Stern, Maria, strahlender Mond! Maria, unsere Perle!«
»Aber dieser Name bedeutet auch Bitterkeit. Fürchtest du nicht, daß er ihr Un-heil bringen könnte?« »Gott ist mit ihr. Sie gehörte ihm, schon bevor sie lebte. Er wird sie führen auf ihren Wegen, und jede Bitterkeit wird sich in paradiesi-sche Süße verwandeln. Jetzt gehöre deiner Mutter noch ein wenig, bevor du ganz Gottes sein wirst!«
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