Maria und Elisabeth

 

 

 

 

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Stand: 18. September 2024

 

 

 

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Beitrag 9 

 

 

 

Maria von Nazareth

spricht sich mit Josef aus

 

  • Nach 53 Tagen zeigt die Mutter sich wieder mit der folgenden Vision, die ich nach ihrer Anweisung in dieses Buch einfügen soll. Die Freude erneu-ert sich in mir. Denn Maria sehen, heißt Freude besitzen.
  • Ich sehe also das Gärtlein von Nazareth. Maria spinnt im Schatten eines dicht belaubten Apfelbaums, der voll beladen ist mit Früchten, die sich zu röten beginnen und rosig und rund wie Kinderbäcklein sind.

Aber Maria ist es durchaus nicht rosig zumute. Die schöne Farbedie ihre Wan-gen in Hebron belebte, ist verschwunden. Ihr Antlitz ist bleich wie Elfenbein. Nur die Lippen zeichnen einen Bogen von bleichem Korall.

Unter den gesenkten Wimpern liegen zwei dunkle Schatten, und die Augenrän-der sind geschwollen wie bei jemand, der geweint hat.

  • Ich sehe ihre Augen nicht, denn ihr Haupt ist nach vorne geneigt.
  • Ihre Aufmerksamkeit ist auf ihre Arbeit gerichtet und mehr noch auf be-trübliche Gedanken, denn ich höre sie seufzen wie jemand, der im Herzen schmerzlich leidet.
  • Sie ist weiß gekleidet, in weißes Linnen; es ist sehr warm, obwohl die noch volle Frische der Blumen mir sagt, daß es Morgen sein muß.

Ihr Haupt ist unbedeckt, und die Sonne, die mit dem von einem leichten Wind bewegtem Blätterwerk des Apfelbaumes spielt und wie mit Lichtbündeln bis zur

braunen Erde der Blumenbeete vordringt, zeichnet Lichtkreise auf ihr blondes Haupt, und die Haare leuchten dort wie Dukatengold.

 

Vom Haus her dringt kein Geräusch, ebensowenig von den benachbarten Gär-ten. Man hört nur das Murmeln eines kleinen Wasserrinnsals, das hinten im Garten in ein Becken plätschert. Ein kräftiges Klopfen an der Außentür des Hauses läßt Maria auffahren. Sie legt Spinnrocken und Spindel nieder und geht, um zu öffnen.

  • Wenn auch ihr Gewand noch so locker und weit ist, es gelingt ihm nicht vollständig, die Rundung des Leibes zu verbergen.

Vor ihr steht Josef.

  • Maria erbleicht bis zu den Lippen. Jetzt gleicht ihr Antlitz einer Hostie, so blutleer ist es.

Maria schaut ihn an mit einem traurigen, fragenden Blick. Josef sieht sie an mit fast flehenden Augen. Schweigend schauen sie sich an.

Maria öffnet den Mund: »Zu dieser Stunde, Josef? Brauchst du etwas? Was willst du mir sagen? Komm!«

Josef tritt ein und schließt die Tür. Er spricht noch nicht.

»Sprich, Josef! Was willst du von mir?«

»Dein Verzeihen.« Josef beugt sich nieder, als wollte er niederknien. Aber Maria, sonst immer so zurückhaltend, ihn zu berühren, faßt ihn entschlossen bei den Schultern und hindert ihn daran.

  • Die Farbe im Antlitz Marias wechselt ständig. Bald ist sie ganz rot, bald schneeweiß wie vorher.

»Mein Verzeihen! Ich habe dir nichts zu verzeihen, Josef. Ich kann dir immer nur danken für alles, was du hier drinnen während meiner Abwesenheit getan hast, und für die Liebe, die du mir entgegenbringst.«

  • Josef schaut sie an, und ich sehe, wie sich zwei große Tränen in der Höh-lung seiner tiefen Augen bilden; sie stehen wie auf dem Rand eines Ge-fäßes und rollen dann über Wangen und Bart.

»Verzeih, Maria! Ich habe dir mißtraut. Jetzt weiß ich [Mt 1,19–24]Ich bin nicht würdig, einen solchen Schatz zu besitzen. Ich habe gegen die Liebe gefehlt, ich habe dich in meinem Herzen angeklagt. Ich habe dich ungerechterweise angeklagt, denn ich habe dich nicht nach der Wahrheit gefragt. Ich habe gegen das Gesetz Gottes gefehlt, weil ich dich nicht geliebt habe, wie ich mich selbst geliebt hätte.« [Lev 19,18].

»Oh! Nein! Du hast nicht gefehlt!«

»Doch, Maria! Wenn ich eines solchen Fehlers angeklagt worden wäre, hätte ich mich verteidigt. Du jedoch ... Ich habe dir nicht ermöglicht, dich zu vertei-digen, denn ich war daran, Entscheidungen zu treffen, ohne dich zu fragen. Ich habe gegen dich gefehlt, weil ich dich mit meinem Verdacht beleidigt habe. Schon ein Verdacht ist eine Beleidigung, Maria. Wer Verdacht schöpft, versteht nicht. Ich habe dich nicht verstanden, wie ich hätte sollen.

Aber um des Schmerzes willen, den ich gelitten habe, drei Tage der Qual, ver-zeih mir, Maria!«

»Ich habe dir nichts zu verzeihen. Im Gegenteil: ich bitte dich um Verzeihung für den Schmerz, den ich dir bereitet habe.«

»O ja, das war ein Schmerz! Welch ein Schmerz! Schau: heute morgen hat man mir gesagt, daß ich um die Schläfen weiß geworden bin, daß ich im Ge-sicht Falten habe. Um mehr als zehn Lebensjahre bin ich in diesen Tagen älter geworden! Aber warum, Maria, bist du so demütig gewesen, vor mir, deinem Bräutigam, deinen Ruhm zu verbergen, und hast gestattet, daß ich dich ver-dächtigte?«

Josef kniet nicht mehr, aber er steht so gebeugt da, daß es fast so scheint. Maria legt ihre kleine Hand auf sein Haupt und lächelt.

Sie scheint ihm zu verzeihen und sagt: »Wenn meine Demut nicht vollkommen gewesen wäre, hätte ich nicht verdient, den zu empfangen, der kommt, die Schuld jenes Hochmuts zu tilgen, der den Menschen zugrunde gerichtet hat. Und dann habe ich gehorcht.

  • Gott hat diesen Gehorsam von mir verlangt.

Er hat mich sehr viel gekostet, um deinetwillen, um des Schmerzes willen, den du erlitten hast. Aber ich konnte nur gehorchen. Ich bin die Magd Gottes, und

die Diener widersprechen den Anordnungen nicht, die sie erhalten. Sie führen sie aus, Josef, auch wenn es sie blutige Tränen kostet.«

  • Maria weint leise, während sie spricht. So still, daß Josef, gebeugt wie er ist, es erst bemerkt, als eine Träne zu Boden fällt.
  • Da erhebt er das Haupt und – es ist das erste Mal, daß ich ihn dies tun sehe – er nimmt die zarten Hände Marias in seine braunen, starken Hän-de und küßt die Spitzen der zarten Finger, die wie Pfirsichknospen aus den umschließenden Händen Josefs her vorragen.

»Aber jetzt muß vorgesorgt werden, weil ...«

  • Josef spricht nicht weiter, sondern blickt auf den Leib Marias.
  • Sie wird purpurrot und setzt sich sogleich, um ihre Körperformen nicht so seinem Blick auszusetzen.

»Es muß schnell etwas geschehen. Ich werde hierherkommen. Wir werden die Ehe schließen, [Mt 1,24] in der kommenden Woche, paßt es dir?«

»Alles was du tust, ist gut, Josef. Du bist der Hausherr, ich deine Dienerin.«

»Nein. Ich bin dein Diener. Ich bin der glückliche Knecht meines Herrn, der in deinem Schoß heranwächst. Du bist gebenedeit unter allen Frauen Israels. Heute Abend werde ich die Verwandten benachrichtigen und dann, wenn ich hier sein werde, werden wir alles vorbereiten für sein Kommen. Oh! Wie werde ich Gott in meinem Haus empfangen können? Gott in meinen Armen? Ich wer-de sterben vor Freude! Ich werde nie wagen, ihn zu berühren!«

»Du wirst es können, wie ich es können werde, durch die Gnade Gottes.«

»Aber du bist Du! Ich bin ein armer Mensch, der ärmste der Söhne Gottes!«

»Jesus kommt für uns Arme, um uns reich zu machen in Gott; er kommt zu uns beiden, denn wir sind die Ärmsten und erkennen an, es zu sein! Freue dich, Josef! Der Stamm Davids hat den erwarteten König, und unser Haus wird prächtiger sein als der Königspalast Salomons; denn hier wird der Himmel sein. Wir werden mit Gott das Geheimnis des Friedens teilen, das die Men-schen später kennen werden. Er wird unter uns aufwachsen, und unsere Arme werden die Wiege des heranwachsenden Erlösers sein, und unsere Mühen  werden ihm das Brot sichern. Oh, Josef, wir werden die Stimme Gottes ver-nehmen, die „Vater und Mutter“ zu uns sagen wird! Oh!«

  • Maria weint vor Freude: ein glückliches Weinen!
  • Und Josef kniet jetzt zu ihren Füßen und weint, das Haupt fast in ihrem weiten Gewand verborgen, das in Falten auf den armen Ziegelboden des Zimmers fällt.
  • Hier endet die Vision.

 

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Darstellung des Täufers im Tempel

 

 

Beitrag 8.1 

 

 

 

Zacharias wird von den Tempelwächtern ehrenvoll empfangen ...

 

  • In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag der Karwoche sehe ich Folgen-des:

Aus einem bequemen Wagen, an den auch das Lasttier Marias gebunden ist, sehe ich Zacharias, Elisabet, Maria, mit dem kleinen Johannes und Samuel mit einem Lamm und einer Taube in einem Körbchen steigen. Sie steigen vor der üblichen Stallung aus.

  • Diese bildet eine Etappe für alle Tempelpilger, die dort ihre Reittiere unter-bringen können.

Maria ruft einen kleinen Mann, dem die Stallung gehört, und fragt ihn, ob tags zuvor oder in den Morgenstunden niemand aus Nazareth eingetroffen sei. »Niemand, Frau«, antwortet der Alte.

  • Maria ist erstaunt, fragt aber nicht weiter.

Sie läßt das Eselein von Samuel unterbringen, gesellt sich dann zu Zacharias und Elisabet, denen sie die Verspätung Josefs erklärt: »Er scheint durch irgend etwas aufgehalten worden zu sein. Aber heute kommt er sicher noch.« Sie nimmt wieder den Knaben, den sie Elisabet übergeben hatte, und dann bege-ben sie sich zum Tempel. 

 

Zacharias wird von den Tempelwächtern ehrenvoll empfangen und von anderen Priestern begrüßt und beglückwünscht.

  • Er macht heute einen prachtvollen Eindruck in seinen priesterlichen Ge-wändern und in seiner Freude als glücklicher Vater. Er sieht aus wie ein  Patriarch; ich denke, daß Abraham ihm gleichen mußte, als er die Freude hatte, Isaak dem Herrn aufzuopfer n [Gen 22,1–18].
  • Ich sehe die Zeremonie der Darstellung des kleinen Israeliten und die Rei-nigung der Mutter. Sie ist noch prunkhafter als jene von Maria; denn für einen Priestersohn veranstalten die Priester ein größeres Fest.

Nun kommen sie in großer Zahl herbei und bilden einen feierlichen Kreis um die Gruppe der Frauen und den Neugeborenen. 

  • Auch eine neugierige Menge ist herbeigeströmt, und ich höre ihre  Bemer-kungen. Da Maria den Knaben auf ihren Armen trägt, als man sich zum üblichen Ort begibt, glaubt die Menge, sie sei die Mutter.

Eine Frau aber sagt: »Das kann nicht sein. Seht ihr nicht, daß sie schwanger ist? Das Kind ist erst wenige Tage alt, und sie ist schon rundlich!«

»Trotzdem«, sagt ein anderer, »nur sie kann die Mutter sein. Die andere ist alt. Sie ist wohl eine Verwandte. Aber Mutter kann sie in ihrem Alter nicht sein.«

»Folgen wir ihnen, so werden wir sehen, wer recht hat.«

Und das Staunen wächst, als sie sehen, das der Ritus der Reinigung an Elisa-bet vollzogen wird, die ihr blökendes Lämmlein als Brandopfer und ihre Taube für die Sühne darbringt.

»Sie ist die Mutter, hast du gesehen?« »Nein!« »Doch!«

Die Leute flüstern noch ungläubig. Sie flüstern aber so laut, daß ein herrisches »Pst!« aus der Gruppe der Priester, die der Zeremonie beiwohnen, hörbar wird. Das Volk schweigt einen Augenblick, wird aber noch lauter, als Elisabet strahlend und in heiligem Stolz das Kind nimmt und in den Tempel schreitet zu seiner Darstellung vor dem Herrn.

»Sie ist es also doch!«

»Es ist immer die Mutter, die den Knaben aufopfert.«

»Was ist das für eine wunderbare Geschichte?«

»Was wird aus dem Kind werden, das dieser Frau in ihrem hohen Alter ge-schenkt worden ist?«

»Was soll das bedeuten?«

»Wißt ihr nicht?« sagt einer, der atemlos dazukommt: »Das ist der Sohn des Priesters Zacharias vom Stamm Aaron; er wurde stumm, als er das Rauchop-fer im Tempel darbrachte.«

»Geheimnis! Geheimnis! Jetzt spricht er wieder! Die Geburt des Sohnes hat ihm die Zunge gelöst.«

»Welcher Geist mag wohl mit ihm gesprochen und seine Zunge gelähmt ha-ben, um ihn an das Schweigen zu gewöhnen, das den Geheimnissen Gottes gebührt?«

»Geheimnis! Welche Wahrheit hat Zacharias wohl erfahren?« »Ist sein Sohn vielleicht der von Israel erwartete Messias?« »Er ist in Judäa geboren, nicht in Betlehem und nicht von einer Jungfrau. Er kann nicht der Messias sein.« »Wer sonst?«

  • Aber die Antwort bleibt im Schweigen Gottes und das Volk bei seiner Neu-gierde.

Die Zeremonie ist beendet. Die Priester beglückwünschen nun auch die Mutter und den Kleinen.

  • Die einzige, auf die wenig geachtet, die sogar fast mit Abscheu angese-hen wird, sobald man ihren Zustand bemerkt [Lev 12,2], ist Maria.

Nach Beendigung der Beglückwünschung gehen die meisten ihrer Wege. Maria will zur Stallung zurückkehren, um zu sehen, ob Josef angekommen sei. Er ist noch nicht da.

  • Maria ist enttäuscht und wird nachdenklich.

Elisabet macht sich Sorgen um sie: »Bis zur sechsten Stunde können wir blei-ben, dann aber müssen wir abreisen, um vor der ersten Nachtwache zu Hause zu sein. Er ist noch zu klein, um in der Nacht draußen bleiben zu können.«

Maria spricht ruhig und traurig: »Ich werde in einem Hof des Tempels bleiben. Ich gehe zu meinen Lehrerinnen. Ich weiß nicht, irgend etwas werde ich schon unternehmen.«

Zacharias greift mit einem Vorschlag ein, der als gute Lösung sofort angenom-men wird. »Gehen wir zu den Verwandten des Zebedäus. Josef wird dich si-cher dort suchen, und wenn er nicht dorthin kommen sollte, wirst du leicht je-manden finden, der dich nach Galiläa begleitet; denn in diesem Haus gehen die Fischer von Gennesaret ein und aus.«

Sie holen den Esel und gehen zu den Verwandten des Zebedäus; vor vier Mo-naten hatten Josef und Maria sich bei ihnen aufgehalten.

  • Die Stunden schwinden schnell dahin, aber Josef kommt nicht. Maria beherrscht ihren Kummer; sie liebkost den Kleinen, aber man sieht, daß sie nachdenklich ist. Als wolle sie ihren Zustand verbergen, hat sie ihren Mantel nicht abgelegt, trotz der großen Hitze, die alle zum Schwitzen bringt.

Endlich kündet ein starkes Klopfen an der Tür die Ankunft Josefs an.

 

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Beitrag 8.2 

 

 

 

Die beiden Basen umarmen sich liebevoll

 

  • Das Antlitz Marias heitert sich auf und strahlt.

Josef grüßt sie, denn sie kommt ihm als erste entgegen und grüßt ihn ehrer-bietig. »Der Segen Gottes sei mit dir, Maria!«

»Und auch mit dir, Josef und Lob sei dem Herrn, daß du gekommen bist! Sieh, Zacharias und Elisabet waren schon zur Abreise bereit, um noch vor Nacht zu Hause zu sein.«

»Dein Bote kam nach Nazareth, während ich wegen der Arbeit in Kana war. Vorgesternabend erfuhr ich davon und bin sofort abgereist. Aber, obwohl ich nirgendwo gerastet habe, habe ich mich verspätet, denn mein Esel hat ein Hufeisen verloren. Verzeih mir!«

»Verzeih du mir, daß ich so lange von Nazareth ferngeblieben bin [Lk 1,56]. Aber schau: sie waren so glücklich, mich bei sich zu haben, daß ich bis jetzt geblieben bin.«

»Du hast gut daran getan, Frau. Und wo ist das Kind?«

Sie gehen ins Zimmer, wo Elisabet vor der Abreise noch einmal Johannes stillt. Josef beglückwünscht die Eltern wegen des kräftigen Körperbaues des Kna-ben, der von der Mutterbrust genommen wird, um Josef gezeigt zu werden und schreit und strampelt, als ob man ihn schinden wolle. Alle lachen wegen seiner Proteste. Auch die Verwandten des Zebedäus lachen; sie sind mit frischen  Früchten, Milch und Brot für alle und einem großen Gefäß voller Fische herbei- gekommen und beteiligen sich an der Unterhaltung.

Maria spricht wenig. Sie sitzt ruhig und schweigsam in ihrer Ecke, die Hände auf dem Schoß unter ihrem Mantel. Auch während sie eine goldfarbene Wein-traube und ein wenig Brot ißt und eine Tasse Milch trinkt, spricht sie wenig und rührt sich kaum. Sie schaut mit einem etwas sorgenvollen und forschenden Blick auf Josef.

Auch er schaut sie an und nach einiger Zeit beugt er sich über ihre Schulter und fragt: »Bist du müde oder leidest du? Du bist bleich und traurig.«

»Ich leide darunter, mich von dem kleinen Johannes trennen zu müssen. Ich habe ihn so gern. Kaum geboren, ist er mir ans Herz gewachsen.«

  • Josef forscht nicht weiter.

Die Stunde der Abreise des Zacharias ist gekommen. Der Wagen hält vor der Tür, und alle gehen auf ihn zu.

 

  • Die beiden Basen umarmen sich liebevoll.

Maria küßt immer wieder den Kleinen, bevor sie ihn in den Schoß der Mutter legt, die schon im Wagen sitzt. Dann grüßt sie Zacharias und bittet um seinen Segen.

Beim Niederknien vor dem Priester gleitet ihr der Mantel von den Schultern und die Leibesformen treten in dem scharfen Licht des sommerlichen Nach-mittags deutlich her vor.

  • Ich weiß nicht, ob Josef sie in diesem Augenblick beobachtet hat, beschäf-tigt wie er war mit dem Abschied von Elisabet.

Der Wagen setzt sich in Bewegung. Josef geht mit Maria ins Haus zurück; sie nimmt wieder ihren Platz in dem halbdunklen Winkel ein.

»Wenn es dir nichts ausmacht, in der Nacht zu reisen, würde ich vorschlagen, bei Sonnenuntergang aufzubrechen. Die Hitze ist untertags stark. Die Nacht hingegen ist frisch und ruhig. Ich sage es um deinetwillen, damit du nicht zu

sehr unter der Sonne leidest. Für mich ist es gleichgültig, in der Sonnenhitze zu reisen. Aber du ...«

»Wie du willst, Josef. Ich halte es auch für gut, in der Nacht zu reisen.« »Das Haus ist völlig in Ordnung. Auch das Gärtchen. Du wirst sehen, wie schön die Blumen sind! Du kommst gerade zur rechten Zeit, um sie alle in Blüte zu se-hen. Der Apfelbaum, der Feigenbaum und die Reben sind voller reifer Früchte wie sonst nie, und den Granatapfelbaum habe ich stützen müssen, so beladen sind seine Äste mit wohlgeformten Früchten, wie man sie selten um diese Zeit sieht.

Dann die Oliven ... Öl wirst du im Überfluß haben. Die Bäume haben wunder-bar geblüht, und keine Blüte ist verloren gegangen. Alle sind jetzt schon kleine Oliven. Wenn sie reif sind, wird der Baum aussehen, als ob er voller schwarzer Perlen sei. Kein Garten in ganz Nazareth ist so schön wie der deinige. Auch die Verwandten sind ganz erstaunt. Und Alphäus sagt, das sei ein Wunder.«

»Dein Fleiß hat das geschafft.«

»O nein! Ich armer Mensch soll das gemacht haben? Ich habe ein wenig die Bäume gepflegt und den Blumen ein wenig Wasser gegeben. Weißt du? Ich habe dir hinten bei der Grotte einen Brunnen gemacht, mit einem Becken. So brauchst du nicht hinauszugehen, um Wasser zu holen. Ich habe es von der Quelle hergeleitet, die sich über dem Olivengarten des Matthias befindet. Das Wasser fließt dort rein und reichlich. Ein kleines Bächlein habe ich dir zuge-leitet. Ich habe eine gutgedeckte Rinne angelegt, und jetzt fließt das Wasser  und singt wie eine Harfe. Es hätte mir leid getan, hättest du zur Quelle des Dorfes gehen und dich mit vollen Krügen beladen müssen.«

»Ich danke dir, Josef! Du bist so gut!«

  • Die beiden Eheleute schweigen jetzt vor Müdigkeit, und Josef schlummert sogar ein. Maria betet.

Es kommt der Abend. Die Gastgeber bestehen darauf, daß die beiden vor der Abreise noch etwas essen. Josef ißt auch tatsächlich Brot und Fisch; Maria nur Früchte und Milch. Dann gehen sie. Josef hat auf seinem Esel wie bei der Her-reise das Gepäck Marias befestigt; bevor Maria ihr Lasttier besteigt, achtet er  darauf, daß der Sattel festsitzt. Ich sehe, wie Josef Maria beobachtet, als sie in den Sattel steigt. Aber er sagt nichts. Die Reise beginnt unter dem Aufleuchten der ersten Sterne am Himmelsgewölbe. Sie beeilen sich, um noch zu den To-ren zu gelangen, bevor sie geschlossen werden. Während sie Jerusalem ver-lassen und die Landstraße nach Galiläa nehmen, werden die Sterne immer zahlreicher am klaren Himmel.

  • Ein großes Schweigen liegt über der Landschaft.

Man hört nur Nachtigallen singen und das Getrippel der Hufe der beiden Esel auf dem harten Boden der vom Sommer ausgebrannten Straße.

 

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Die Beschneidung des Täufers

 

 

Beitrag 7 

 

  • Ich sehe das Haus im Festschmuck.

Es ist der Tag der Beschneidung.

Maria hat dafür gesorgt, daß alles schön und in Ordnung sei. Die Räume er-strahlen im Licht, wie auch die schönsten Stoffe und die schönsten Einrich-tungsgegenstände. Viel Volk ist da. Maria bewegt sich flink unter den einzelnen Gruppen.

  • Sie ist schön in ihrem schönsten weißen Gewand.

Elisabet wird wie eine Matrone verehrt und freut sich ihres Festes. Ihr Kind ruht auf ihrem Schoß, gesättigt mit Milch.

 

Es kommt die Stunde der Beschneidung.

»Wir wollen ihn Zacharias heißen. Du bist alt. Es ist gut, wenn dein Name dem Kind gegeben wird«, sagen die Männer.

»Nein, nein!« ruft die Mutter. »Sein Name ist Johannes. Sein Name muß Zeug-nis geben von der Allmacht Gottes.«

»Aber hat es denn je in unserer Verwandtschaft einen Johannes gegeben?«

»Das tut nichts zur Sache. Er muß Johannes heißen.«

»Was sagst du, Zacharias? Du willst ihm doch deinen Namen geben, nicht wahr?«

Zacharias gibt Zeichen der Verneinung! Er nimmt das Täfelchen und schreibt: »Sein Name ist Johannes«, und kaum hat er zu schreiben geendet, da fügte er schon mit nun befreiter Zunge hinzu:

»Denn Gott hat große Gnade an mir, seinem Vater, und an seiner Mutter geübt und auch an diesem seinem neuen Knecht, der sein Leben verzehren wird zur Ehre des Herrn; und groß wird er in den Jahrhunderten und vor den Augen Gottes genannt werden, denn er wird kommen, die Herzen zum Herrn, dem Allerhöchsten, zu bekehren. Der Engel hat es gesagt, und ich habe es nicht glauben wollen. Aber jetzt glaube ich, und ein Licht leuchtet in mir. Dieses Licht ist unter euch, und ihr seht es nicht. Sein Schicksal wird sein, nicht gesehen zu werden, denn der Geist der Menschen ist umnachtet und träge. Aber mein Sohn wird es sehen und von ihm reden, und er wird die Gerechten Israels auf Ihn hinweisen. Oh! Selig, die glauben werden, die immer glauben an das Wort des Herrn! Und Du sei gebenedeit, o ewiger Herr, Gott Israels, denn Du hast uns heimgesucht und Deinem Volk Erlösung gebracht; Du hast einen mächti-gen Erlöser im Haus seines Knechtes David erweckt, wie Du es verspro-chen hast durch den Mund der heiligen Propheten seit den ältesten Zeiten [Jer 23,5–6; 33,14–26], um uns zu befreien von unserem Feind und aus den Händen  derer, die uns hassen; um Dein Erbarmen an unseren Vätern zu üben und Dich deines heiligen Bundes eingedenk zu zeigen. Dies ist der Schwur, den Du Abraham, unserem Vater, getan: uns zu gewähren, daß wir ohne Furcht, befreit von den Händen unserer Feinde, Dir dienen in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor Deinem Angesicht das ganze Leben hindurch bis ans Ende.« [Gen 22,15–18].

  • Die Anwesenden staunen; sie staunen über den Namen, über das Wunder und über die Wort des Zacharias.

Elisabet ist beim ersten Worte des Zacharias in einen Freudenschrei ausge-brochen und weint nun in den Armen Marias, die sie glücklich liebkost.

 

Der Neugeborene wird zur Beschneidung in einen anderen Raum getragen.

Als man ihn zurückbringt, schreit der kleine Johannes aus vollem Hals. Nicht einmal die Muttermilch beruhigt ihn. Er schlägt aus wie ein junges Füllen. Aber Maria nimmt und wiegt ihn; da schweigt er und beruhigt sich.

»Da schaut einmal!« sagt Sara. »Er beruhigt sich nur, wenn sie ihn auf ihren Arm nimmt!«

Das Volk entfernt sich langsam. Im Zimmer bleiben nur Maria mit dem Kleinen auf dem Arm und Elisabet, die Glückliche, zurück. 

Zacharias tritt ein und schließt die Tür. Mit Tränen in den Augen schaut er Ma-ria an. Er möchte reden. Aber er schweigt. Er geht auf Maria zu und wirft sich vor ihr auf die Knie. »Segne den elenden Diener des Herrn!« sagt er. »Segne ihn, denn du kannst es, du, die du Ihn in deinem Schoß trägst. Das Wort des Herrn sprach zu mir, als ich meinen Irrtum erkannte und alles glaubte, was mir gesagt worden war.

 

Ich sehe dich und dein glückliches Los. 

In dir bete ich an den Gott Jakobs.

Du, mein erster Tempel, wo der bekehrte Priester in neuer Weise zum Ewigen beten kann. Du bist gesegnet, da du Gnade erlangt hast für die Welt und jetzt den Erlöser trägst. Verzeihe deinem Knecht, wenn er so spät deine Erhaben-heit erkannt hat. Alle Gnaden hast du uns durch dein Kommen gebracht, denn wohin immer du gehst, du Gnadenvolle, wirkt Gott seine Wundertaten und hei-lig sind die Mauern, in die du einkehrst; geheiligt werden die Ohren, die deine Stimme hören, und das Fleisch, das du berührst. Geheiligt werden die Herzen, denn du erteilst Gnaden, du Mutter des Allerhöchsten, du prophezeite Jungfrau, die erwartet wurde, damit sie dem Volk Gottes den Erlöser schenken sollte.«

Maria lächelt, verlegen vor Demut, und spricht: »Lob sei dem Herrn, Ihm allein.

Von Ihm, nicht von mir kommt jede Gnade. Und Er spendet sie dir, damit du Ihn liebst und Ihm in den noch übrigen Jahren in Vollkommenheit dienen wirst, um sein Reich zu verdienen, das mein Sohn den Patriarchen, den Propheten und den Gerechten des Herrn öffnen wird. Und du, jetzt, da du vor dem Heili-gen beten darfst, bete für die Magd des Allerhöchsten. Denn Mutter des Soh-nes Gottes sein, ist ein seliges Los; Mutter der Erlösers aber muß ein Los bit-teren Schmerzes sein. Bete für mich, denn von Stunde zu Stunde fühle ich in mir die Last des Schmerzes wachsen. Und ein ganzes Leben lang werde ich sie tragen müssen. Und wenn ich auch die Einzelheiten noch nicht kenne, so fühle ich doch, daß es eine größere Last werden wird, als wenn auf diese mei-ne Frauenschultern die ganze Welt gelegt würde und ich sie dem Himmel dar-bieten müßte. Ich, ich allein, eine arme Frau! Mein Kind! Mein Sohn! Ach! Der deine weint jetzt nicht mehr, weil ich ihn wiege; werde ich meinen eigenen wie-gen können, um seinen Schmerz zu lindern? Bete für mich, Priester des Herrn! Mein Herz bebt wie die Blume im Sturmwind. Ich blicke auf die Menschen und liebe sie. Aber ich sehe hinter ihren Gesichtern den Widersacher erscheinen, der aus ihnen Feinde Gottes, meines Sohnes Jesu, machen will.«

  • Und die Vision endet mit dem Erbleichen Marias und den Tränen, die ihren Blick zum Leuchten bringen.

 

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Die Geburt des Täufers

 

 

Beitrag 6.1 

 

 

 

Jesus wird dich von jeder Gefahr befreien

 

  • Mitten in den widerlichen Dingen, die uns die Welt heute bietet, steigt vom Himmel friedlich die folgende Vision herab.

Es ist immer noch das Haus Elisabets, an einem schönen Sommerabend. Der Himmel wird von einer untergehenden Sonne erhellt und hat sich schon mit der Mondsichel geschmückt, die wie ein silbernes Komma auf seinem dunkel-blauen Teppich erschienen ist. 

Die Rosenstöcke duften stark, und die Bienen machen ihre letzten Flüge, sum-mende Goldtropfen in der stillen, warmen Abendluft.

  • Von den Wiesen kommt der Duft des an der Sonne getrockneten Heus.
  • Ein Duft, der dem des gerade aus dem Ofen gezogenen Brotes ähnelt. Vielleicht kommt er auch von den zahlreichen Leintüchern, die zum Trock-nen aufgehängt sind und die Sara nun zusammenfaltet.

Maria ist auf einem Spaziergang, Arm in Arm mit ihrer Base. Sie gehen unter der schon halbdunklen Laube langsam auf und ab. Maria hat für alles ein Au-ge, und wenngleich sie sich auch mit Elisabet unterhält, so bemerkt sie doch, daß Sara Schwierigkeiten hat, ein langes Leintuch zu falten, das sie von einer Hecke gezogen hat.

»Warte auf mich und setze dich hierher!« sagt sie zu ihrer Verwandten und geht hin, der alten Magd zu helfen, die Leinwand straff zu ziehen und mit Sorg-falt zusammenzulegen.

»Sie ist noch warm und hat noch etwas Sonne in sich«, sagt sie lächelnd. Und um die Frau zu beglücken, fügt sie hinzu: »Diese Leinwand ist durch das Wa-schen wunderschön geworden. Keiner versteht sich so gut darauf wie du.«

Sara geht jubelnd mit ihrer Last duftender Leintücher fort.

Maria kehrt zu Elisabet zurück und sagt: »Noch ein paar Schritte. Das wird dir gut tun.« Und da Elisabet müde ist und sich nicht mehr bewegen mag, sagt sie ihr: »Gehen wir noch schauen, ob deine Tauben alle in ihren Nestern sind und ob das Wasser in ihren Becken auch sauber ist. Dann gehen wir zurück ins Haus.«

  • Die Tauben müssen wohl die Lieblinge Elisabets sein.

Als sie vor dem kleinen, ländlichen Turm stehen, sind die Tauben schon alle darin versammelt; die Weibchen in den Brutnestern und die Männchen vor ihnen, regungslos auf die beiden Frauen schauend, um sie mit einem letzten Gurren zu begrüßen. Das rührt Elisabet. Ihre Schwäche und die daraus ent-springenden Sorgen bringen sie zum Weinen. Sie eröffnet Maria ihre Ängste: »Wenn ich sterben sollte, meine armen Täubchen. Du bleibst ja nicht bei uns. Wenn du in meinem Haus bliebest, würde ich ohne Sorge sterben. Ich habe die größte Freude erlebt, die einer Frau beschert werden kann; eine Freu-de, auf die zu verzichten ich mich schon abgefunden hatte. Und auch über den Tod kann ich mich beim Herrn nicht beklagen, denn Gott sei gepriesen, er hat mich mit seiner Güte überhäuft. Aber da ist Zacharias und da wird das Kind sein. Er ist alt und wäre wie in einer Wüste verloren, ohne eine Frau. Und das Kind, so klein, wie eine Blume, es wird bestimmt vor Kälte sterben, ohne seine Mutter. Armes Kind, ohne die Liebkosungen seiner Mutter!«

»Aber warum bist du so traurig? Gott hat dir die Freude gegeben, Mutter sein zu dürfen; er wird sie dir nicht jetzt nehmen, wo dein Wunsch gerade in Erfül-lung gegangen ist. Der kleine Johannes wird alle Küsse seiner Mutter erhalten, und Zacharias wird bis ins hohe Alter die Fürsorge seiner treuen Gattin haben. Ihr seid beide Zweige derselben Pflanze. Keiner von euch wird den andren allein lassen.«

»Du bist gut und tröstest mich. Aber ich bin schon zu alt, um einen Sohn zu ge-bären. Jetzt, da die Stunde naht, fürchte ich mich.«

»O nein! Hier ist doch Jesus! Man darf sich nicht fürchten, wenn Jesus da ist. Mein Kind hat dich von den Schmerzen befreit, du selbst hast es gesagt, als es noch eine Knospe war. Jetzt, da es immer größer wird und sein eigenes Leben in mir lebt, fühle ich sein Herz in meiner Kehle schlagen; ich höre sein Herz-chen in meiner Brust schlagen und habe das Gefühl, ein Vögelchen im Nest zu haben.

 

Jesus wird dich von jeder Gefahr befreien.

 

Du mußt Vertrauen haben!«

»Ich habe Vertrauen. Aber wenn ich sterben sollte, dann verlasse Zacharias nicht sofort! Ich weiß, du denkst an dein Haus. Aber bleibe noch ein wenig, um meinem Mann über die ersten Trauertage hinwegzuhelfen!«

»Ich werde bleiben, um mich an seiner Freude zu erfreuen, und ich werde dich erst verlassen, wenn du stark und freudenvoll bist. Aber beruhige dich jetzt, Eli-sabet! Alles wird gut gehen. In deinem Haus wird es an nichts fehlen, während du leidest. Zacharias wird von der liebevollsten Dienerin bedient werden, und deine Blumen werden gepflegt werden. Auch um deine Tauben wird man sich kümmern, und sie werden zufrieden und gut gepflegt darauf warten, die Rück-kehr ihrer Herrin feiern zu können. Gehen wir jetzt zurück ins Haus! Ich sehe,    daß du weiß wirst.«

»Ja, mir scheint, daß sich die Schmerzen verdoppelt haben. Vielleicht ist die Stunde gekommen. Maria, bete für mich!«

»Ich werde dich mit meinem Gebet stärken, bis dein Schmerz sich in Freude verwandelt hat.«

  • Nun treten die beiden Frauen langsam ins Haus.

Elisabet zieht sich in ihre Gemächer zurück. Maria gibt geschickt und vorsorg-lich Anordnungen und bereitet alles vor, was im Fall einer Geburt nötig sein könnte; auch tröstet sie den besorgten Zacharias.

Man wacht im Haus in dieser Nacht, und man hört die Stimme fremder Frauen, die zu Hilfe gerufen worden sind. Maria bleibt wach, wie ein Leuchtturm in stürmischer Nacht. Das ganze Haus dreht sich um sie. Sie sorgt für alles, mil-de und lächelnd. Sie betet. Wenn sie nicht wegen irgendeiner Angelegenheit gerufen wird, bleibt sie im Gebet vertieft. Sie ist in dem Zimmer, in dem man sich zu den Mahlzeiten und zur Arbeit zusammenfindet. Zacharias ist bei ihr, seufzt und geht verwirrt im Zimmer auf und ab. Sie haben schon gemeinsam gebetet; Maria aber fährt fort zu beten. Auch jetzt, da sich der Alte müde nie-dergesetzt hat, schweigend und schläfrig, betet sie. Und als sie sieht, daß er gänzlich eingeschlafen ist, das Haupt auf seinen Armen, die auf den Tisch ge-stützt sind, löst sie ihre Sandalen von den Füßen und geht barfuß, um weniger Lärm zu verursachen. Und ohne mehr Lärm zu machen als der Nachtfalter, der im Zimmer umherschwirrt, nimmt sie den Mantel des Zacharias und breitet ihn mit einer solchen Zartheit über ihm aus, daß er weiterschläft in der weichen Wolle, die ihn vor der nächtlichen Frische schützt, die hin und wieder durch die des öfteren geöffnete Tür eindringt. Dann betet sie wieder. Und immer instän-diger betet sie, auf den Knien und mit erhobenen Händen, wenn das Jammern der Leidenden stärker wird. Sara tritt ein und gibt ihr ein Zeichen zu kommen. Maria geht barfuß in den Garten. »Die Herrin wünscht dich«, sagt Sara.

»Ich komme«, und Maria geht am Haus entlang und steigt die Treppe hinauf.

 

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Beitrag 6.2 

 

 

 

"Die Rose ist geboren"

 

  • Sie ist wie ein weißer Engel, in dieser ruhigen und sternenklaren Nacht.

Sie tritt bei Elisabet ein.

»Oh! Maria! Maria! Welch ein Schmerz! Ich kann nicht mehr, Maria! Welche Schmerzen muß man leiden, um Mutter zu werden!«

Maria streichelt sie liebevoll und küßt sie.

»Maria, Maria! Laß mich meine Hände auf deinen Schoß legen!«

Maria nimmt die beiden runzligen, geschwollenen Hände, legt sie auf ihren ge-rundeten Mutterschoß und drückt sie mit ihren zarten, kleinen Händen fest an sich. Dann sagt sie leise, da sie nun allein sind: »Jesus ist da, er fühlt und sieht dich. Habe Vertrauen, Elisabet! Sein heiliges Herz schlägt jetzt stärker, denn er wirkt jetzt zu deinem Wohl. Ich fühle sein Herz klopfen, als hätte ich es in meiner Hand; ich verstehe sie, die Worte, die mir mein Kind durch sein Herz-klopfen sagen will.

 

Es spricht:

  • „Sage der Frau, sie solle sich nicht fürchten. Noch ein wenig Schmerz. Dann, beim ersten Sonnenstrahl, wird dein Haus die schönste unter den vielen Rosen besitzen, die diesen Morgenstrahl erwarten, um sich auf ih-rem Stiel zu öffnen: Johannes, meinen Vorläufer!“«

Elisabet legt ihr Antlitz auf Marias Schoß und weint leise. Maria rührt sich lange Zeit nicht, denn es scheint, daß ihr Schmerz sich mindere und beruhige. Allen gibt sie ein Zeichen, still zu sein. 

  • Sie bleibt bei der Leidenden stehen, weiß und schön im zarten Schimmer eines Öllichtleins, wie ein Engel. Sie betet. Ich sehe ihre Lippen sich be-wegen. Auch wenn ich das nicht sehen könnte, würde ich an ihrem Aus-druck der Verzückung erkennen, daß sie betet.
  • Es vergeht eine gewisse Zeit.

Der Schmerz erfaßt Elisabet erneut. Maria küßt sie von neuem und zieht sich zurück. Behende steigt sie im Mondenschein die Treppe hinab und eilt zu se-hen, ob der Alte noch schläft. Er schläft und seufzt im Schlaf. Maria bekundet Mitleid mit ihm und beginnt wieder zu beten. Einige Zeit darauf schüttelt sich der Greis im Schlaf, erhebt sein Haupt mit wunderlichem Blick, wie einer, der sich nicht bewußt ist, weshalb er sich hier befindet. Dann erinnert er sich. Eine Geste, ein Kehllaut. Dann schreibt er: »Ist er noch nicht geboren?« Maria ver-neint mit einem Zeichen. Zacharias schreibt: »Wieviel Leid! Meine arme Frau! Wird es gut gehen, ohne daß sie daran stirbt?«

Maria ergreift die Hand des greisen Priesters und beruhigt ihn: »In der Morgen-dämmerung, in Bälde, wird das Kind geboren sein. Alles wird gut gehen, Elisa-bet ist stark. Wie schön wird dieser Tag sein – und bald ist es Tag – an dem dein Kind das Licht der Welt erblicken wird! Der schönste Tag deines Lebens wird es sein! Große Gnaden stehen dir noch bevor, und dein Sohn wird ihr Verkünder sein.«

Zacharias schüttelt traurig den Kopf und deutet auf seinen stummen Mund. Er möchte so vieles sagen und kann es nicht. Maria versteht ihn und gibt zur Ant-wort: »Der Herr wird deine Freude vollkommen machen.

Glaube an ihn in vollkommener Weise, hoffe unbedingt auf ihn, liebe ihn aus ganzem Herzen! Der Allerhöchste wird dich erhören, mehr als du zu hoffen wagst. Der Herr will dieses völlige Vertrauen, um dich rein zu waschen von dei-nem vergangenen Mißtrauen. Sage in deinem Herzen mit mir: „Ich glaube.“ Sage es bei jedem Herzschlag. Die Schätze Gottes öffnen sich dem, der an  ihn und an seine machtvolle Güte glaubt.«

Licht beginnt durch die angelehnte Tür einzudringen. Maria öffnet sie. Die Mor-gendämmerung verbreitet ihr weißes Licht über die staubbedeckte Erde. Ein starker Duft von feuchter, grünender Erde liegt in der Luft.

Das erste Zwitschern der Vögel wird hörbar; sie grüßen sich von Ast zu Ast.

Der Greis und Maria gehen zur Tür. Sie sind bleich nach der schlaflosen Nacht und das Licht der Morgendämmerung läßt sie noch bleicher erscheinen. Maria zieht ihre Sandalen wieder an, geht zum Treppenabsatz und horcht. Als sich eine Frau sehen läßt, winkt sie ihr zu und kehrt dann zurück. Es ist noch nicht soweit. Maria geht in ein Zimmer und kommt mit warmer Milch zurück, die sie dem Greis zu trinken gibt; dann geht sie zu den Tauben, kommt zurück und verschwindet in einem Raum.

  • Vielleicht in der Küche.
  • Sie geht umher und überwacht alles. Sie scheint gut geschlafen zu haben, so lebhaft und heiter ist sie.

Zacharias geht nervös im Garten hin und her. Maria betrachtet ihn voller Mit-leid. Dann kehrt sie ins Zimmer zurück, kniet neben ihrem Webstuhl nieder und betet inständig, da das Jammern der Leidenden lauter geworden ist. Sie beugt sich nieder bis zur Erde, um den Ewigen anzuflehen. Zacharias tritt ein, sieht sie auf den Knien und weint; er, der arme Greis.

Maria erhebt sich und nimmt ihn bei der Hand. Sie ist um vieles jünger, aber sie scheint nun die gute Mutter dieses verlassenen Alten zu sein, und spendet ihm Trost. Jetzt stehen sie nebeneinander in der Sonne, die den Morgenhim-mel rötlich färbt. Da erreicht sie die frohe, festliche Nachricht: »Er ist geboren, er ist geboren.

Ein Junge! Glücklicher Vater! Ein Junge, blühend wie eine Rose, schön wie die Sonne, stark und gütig wie die Mutter. Freue dich, du vom Herrn gesegneter Vater! Er hat  dir einen Sohn geschenkt, damit du ihn im Tempel darbringst. Ehre sei Gott, der diesem Haus Nachkommenschaft geschenkt hat! Segen über dich und den Sohn der dir geboren ist! Möge seine Nachkommenschaft deinen Namen preisen in den Jahrhunderten, von Geschlecht zu Geschlecht, und stets das Bündnis mit dem Ewigen, dem Herrn, wahren!«

Maria preist den Herrn mit Freudentränen. Und dann empfangen beide den Kleinen, der zum Vater getragen wird, damit er ihn segne.

  • Zacharias geht nicht zu Elisabet. Er nimmt das Knäblein entgegen, das wie verzweifelt schreit, geht aber nicht zu seiner Frau.

Maria geht zu ihr, mit dem liebevollen Kleinen auf den Armen, der sofort schweigt, als sie ihn zu sich nimmt. Die Gevatterin, die ihr folgt, bemerkt dies. »Frau«, sagt sie zu Elisabet, »dein Kind ist sofort still geworden, als sie es genommen hat. Schau, wie ruhig es schläft! Der Himmel weiß, wie lebendig und stark es ist. Schau es an! Ein Täubchen!«

Maria legt das Kindlein neben die Mutter und liebkost sie, während sie ihr die grauen Haare ordnet.

 

»Die Rose ist geboren«, ...

 

sagt sie ihr leise. »Und du lebst. Zacharias ist glücklich.«

»Spricht er?«

»Noch nicht. Aber hoffe auf den Herrn! Ruhe dich jetzt aus! Ich bleibe bei dir.«

 

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Beitrag 5

 

 

 

Maria spricht von ihrem Kind

 

  • Ich sehe, wie Maria mit großem Eifer in der Laube spinnt, wo die Trauben immer größer werden. Es muß schon eine gewisse Zeit verflossen sein, denn die Äpfel beginnen rot zu werden und die Bienen summen um die vollen Blüten des Feigenbaumes.

Elisabet ist rundlich geworden und geht sehr schwerfällig. Maria betrachtet sie mit Aufmerksamkeit und Liebe. Auch Maria erscheint, als sie sich erhebt, um die Spindel zu holen, die ihr weit davongerollt ist, stärker in den Hüften und der Ausdruck ihres Gesichtes ist reifer geworden.

  • Vorher war sie ein Kind, jetzt ist sie eine Frau.

Die beiden Frauen gehen in das Haus, denn der Abend bricht herein, und im Zimmer werden die Lampen angezündet. In Erwartung des Abendessens ar-beitet Maria am Webstuhl.

»Aber macht dich das nicht müde?« fragt Elisabet, auf den Webstuhl hinwei-send.

»Nein, gewiß nicht!«

»Diese Hitze entkräftet mich. Ich habe keine Schmerzen mehr gehabt, aber jetzt spüre ich die Last auf meinen alten Nieren.«

»Sei tapfer! Bald wirst du davon befreit sein. Wie glücklich wirst du dann sein! Ich kann die Stunde nicht erwarten, Mutter zu werden. Mein Kind! Mein Jesus! Wie wird er aussehen?«

»Schön wie du, Maria.«

»O nein! Viel schöner! Er ist Gott. Ich bin seine Magd. Ich wollte sagen: wird er blond sein oder braun? Wird er Augen haben wie der blaue Himmel oder wie die Hirsche in den Bergen? Ich stelle ihn mir viel schöner vor als einen Kerub, mit goldenen Haaren, mit Augen in der Farbe des galiläischen Meeres, wenn die Sterne beginnen, am Himmel zu erscheinen, mit einem Mündlein klein und rot wie der Riß eines Granatapfels, der eben an der Sonne gereift und aufge-sprungen ist; und mit Bäckchen wie die bleichen Rosen dieses Rosenstockes; und zwei Händchen, die in einem Lilienkelch Platz finden könnten, so klein und schön; und zwei Füßchen, die in die Höhlung meiner Hand passen würden, weich und zart wie Blütenblättlein. Schau! Ich entnehme die Vorstellung, die ich mir von ihm mache, den schönen Dingen der Natur. Ich höre schon seine Stimme. Er wird weinen, wenn er Hunger verspürt oder müde ist, mein Kleiner; zum großen Leid seiner Mutter, die ihn nicht weinen sehen kann, nein, sie kann ihn nicht weinen sehen, ohne daß es ihr das Herz zerreißt. Sein Schreien wird dem Blöken des eben geborenen Lämmchens gleichen, das wir gerade hören; es sucht das Euter der Mutter und die Wärme ihres Felles. In seinem Lächeln wird er mir mein Herz, das verliebt ist in mein Kind, zum Himmel ma-chen; ich darf ja in ihn verliebt sein, denn er ist mein Gott, und ihn als Verliebte lieben, widerspricht nicht meiner gottgeweihten Jungfrauschaft. Sein Lachen wird dem fröhlichen Gurren eines glücklichen, gesättigten Täubchens gleichen, das zufrieden in seinem Nestchen liegt. Ich sehe schon seine ersten Schritte...

Ein hüpfendes Vögelein auf der blühenden Wiese. Die Au wird das Herz seiner Mutter sein, das seinen rosigen Füßchen ein liebevoller Teppich sein wird, da-mit er sich an nichts verletze. Oh, wie werde ich es lieben, mein Kind! Meinen Sohn! Auch Josef wird ihn lieben!«

»Aber du mußt es endlich Josef sagen!«

Maria wird traurig und seufzt. »Ich werde es ihm sagen müssen. Ich hätte lie-ber, wenn der Himmel es ihm offenbaren würde; denn es ist sehr schwer, es zu sagen.«

»Willst du, daß ich es ihm sage? Wir lassen ihn für die Beschneidung des Jo-hannes kommen«

»Nein. Ich habe Gott die Aufgabe überlassen, ihn über sein glückliches Los aufzuklären, der Nährvater des Sohnes Gottes zu sein. Und er wird mich nicht im Stich lassen. Der Geist hat mir an jenem Abend gesagt:

  • „Schweige, vertraue mir die Aufgabe der Rechtfertigung an!“

Er wird es tun. Gott lügt nicht. Es ist eine große Prüfung, aber mit Hilfe des Ewigen werde ich sie bestehen. Aus meinem Mund darf niemand – außer dir, der der Geist es schon enthüllt hat – erfahren, was die Güte des Herrn an seiner Dienerin gewirkt hat.«

»Ich habe immer geschwiegen; auch Zacharias gegenüber, der doch gejubelt hätte. Er hält dich für eine Mutter wie alle anderen.«

»Ich weiß. Und so wollte ich es auch, aus Klugheit. Die Geheimnisse Gottes sind heilig. Der Engel des Herrn hat Zacharias meine göttliche Mutterschaft nicht geoffenbart. Er hätte es tun können, wenn Gott es gewollt hätte. Denn Gott wußte, daß die Zeit der Fleischwerdung seines Wortes bevorsteht; aber Gott hat dieses Licht der Freude vor Zacharias verborgen, da er deine späte Mutterschaft als unmöglich zurückgewiesen hatte. Ich habe mich dem Willen Gottes unterworfen. Und nun, du siehst es: du hast das in mir lebendige Ge-heimnis gespürt. Er hat nichts bemerkt. Solange der Schleier seiner Ungläu-bigkeit gegenüber der Allmacht Gottes nicht fällt, bleibt ihm das übernatürliche Licht verborgen.«

Elisabet seufzt und schweigt. Zacharias tritt ein. Er übergibt Maria Gebetsrol-len. Es ist Zeit für das abendliche Tischgebet. Maria betet mit lauter Stimme anstelle des Zacharias; dann setzen sie sich zu Tisch.

»Wie werden wir es bedauern, wenn du nicht mehr hier bist, daß niemand mit uns betet«, sagt Elisabet mit einem Blick auf ihren stummen Gemahl.

»Dann wirst du beten, Zacharias«, erwidert Maria.

Er schüttelt den Kopf und schreibt: »Ich werde nie mehr für die anderen beten können. Ich bin dessen unwürdig geworden, seit ich an Gott gezweifelt habe.«

»Zacharias, du wirst beten; Gott verzeiht.«

Der Alte wischt sich eine Träne ab und seufzt. Nach dem Abendbrot kehrt Ma-ria zum Webstuhl zurück.

»Es ist genug«, sagt Elisabet, »du ermüdest dich zu sehr.«

»Die Zeit ist kurz, Elisabet, und ich will deinem Kind eine Aussteuer bereiten, die dem Vorläufer des Königs aus dem Stamm Davids würdig ist.«

Zacharias schreibt: »Von wem wird er geboren werden? Und wo?«

Maria antwortet: »Die Propheten haben den Ort gesagt; der Ewige wird die Mutter auswählen« [Mi 5,2–5; Mt 2,2–6; Joh 7,41–42].

Zacharias schreibt: »Also in Betlehem! In Judäa. Wir werden hingehen, ihn zu verehren, Frau. Dann wirst auch du mit Josef nach Betlehem kommen.«

Maria neigt ihr Haupt über den Webstuhl und sagt: »Ich werde kommen.«

  • Und so endet die Vision.

 

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Maria enthüllt Elisabet den Namen

 

 

 

Beitrag 4.1

 

  • Von welcher Erhöhung spricht er?

 

 

 

  • Ich schlage die Augen auf; es scheint Morgen zu sein.

Maria näht. Sie sitzt im Saal des Erdgeschosses. Elisabet geht im Haus ge-schäftig hin und her. Wenn sie hereinkommt, unterläßt sie es nie, Marias blon-des Haupt liebevoll zu streicheln.

  • Bei den etwas dunklen Wänden und unter den Strahlen der hellen Sonne, die durch die zum Garten hin geöffnete Türe hereinströmen, erscheinen sie besonders auffallend blond.

Elisabet beugt sich über Maria, um ihre Arbeit zu sehen – es ist die Näharbeit, die sie in Nazaret begonnen hat – und lobt deren Schönheit.

»Ich habe auch Flachs zu spinnen«, sagt Maria.

»Für dein Kind?«

»Nein, ich hatte es schon, als ich noch nicht daran dachte« mehr sagt Maria nicht.

  • Aber ich vermute: »Als ich noch nicht daran dachte, daß ich Mutter Gottes werden soll.«

»Aber jetzt mußt du es für ihn verwenden. Ist es schön? Fein? Die Kindlein, weißt du, bedürfen ganz weicher Linnen.«

»Ich weiß es.«

»Ich hatte angefangen, spät, denn ich wollte sicher sein, daß es nicht eine Täuschung des Bösen war. Obwohl ich in mir eine so große Freude empfand, daß es nicht vom Satan kommen konnte.

Dann habe ich soviel gelitten. Ich bin alt, Maria, für einen solchen Zustand. Ich habe viel gelitten. Leidest du nicht?«

»Nein. Ich habe mich nie so wohl gefühlt.«

»Ja, eben! Du, in dir ist kein Makel, wenn Gott dich zu seiner Mutter erwählt. Deshalb bist du nicht den Schmerzen Evas unterworfen. Der, den du trägst, ist heilig!«

»Mir kommt es vor, als trüge ich Flügel im Herzen und keine Last. Es kommt mir vor, als hätte ich in mir alle Blumen und alle Vögelein, die im Frühling sin-gen, und allen Honig und die ganze Sonne. Oh! Ich bin glücklich!«

»Gesegnet bist du! Auch ich, seit ich dich gesehen habe, fühle keine Last mehr, weder Müdigkeit noch Schmerz. Ich komme mir vor wie neu, jung, befreit vom Elend meines fraulichen Fleisches. Als mein Kind glücklich aufhüpfte beim Ton deiner Stimme, ist es in seiner Freude ruhig geworden. Und es scheint mir, als trüge ich es in mir wie in einer lebendigen Wiege und als sähe ich es schla-fen, gestillt und selig, atmend wie ein glücklicher Vogel unter dem Schutz der Flügel seiner Mutter. Jetzt will ich mich wieder an die Arbeit machen. Sie wird mir nicht mehr schwer. Ich sehe schlecht, aber ...«

»Laß das, Elisabet! Ich will für dich und dein Kind spinnen und weben. Ich bin flink und sehe gut.«

»Aber du solltest an deines denken.«

»Oh! Ich habe noch viel Zeit dazu! Zuerst denke ich an dich, da du bald den Kleinen haben wirst; dann werde ich an meinen Jesus denken.«

  • Wie süß sind doch der Ausdruck und die Stimme Marias, wie erstrahlt ihr Auge im sanften, glücklichen Tränenglanz, und wie wunderbar ist ihr Lä-cheln beim Aussprechen dieses Namens, während sie aufschaut zum strahlend blauen Himmel; das geht über alle menschliche Vorstellungs-kraft.
  • Sie scheint verzückt, beim bloßen Aussprechen des Namens: »Jesus.«

Elisabet sagt: »Welch ein schöner Name! Der Name des Gottessohnes, unse-res Erlösers!«

»Oh, Elisabet!« Maria wird traurig, traurig und ergreift die Hände, die ihre Base über ihrem aufgewölbten Schoß hält.

»Sage mir, die du bei meiner Ankunft vom Geist des Herrn erfüllt wurdest und das prophezeit hast, was der Welt unbekannt ist; sage mir, was muß mein Ge-schöpf tun, um die Welt zu retten? Die Propheten ... Oh! Was sagen die Pro-pheten vom Erlöser? Jesaja ... Erinnerst du dich an Jesaja?

  • „Er ist der Mann der Schmerzen. Durch seine Wunden werden wir geheilt. Er ist durchbohrt und voller Wunden wegen unserer Sünden. Der Herr will ihn mit Leiden überhäufen. Nach seiner Verurteilung wird er erhöht“ [Jes 52,13–15; 53].

 

Von welcher Erhöhung spricht er?

 

Sie nennen ihn Lamm, und ich denke, ich denke an das Osterlamm [Ex 12,1–28; Num 28,16–25; Dtn 16,1–8], an das mosaische Lamm; ich stelle es in Zusam-menhang mit der von Mose am Kreuz erhöhten Schlange [Num 21,4–9; Weish 16,5–7; Joh 3,14–15]. Elisabet! Elisabet! Was werden sie meinem Sohn antun?    Was wird er leiden müssen, um die Welt zu retten?« Maria weint.

 

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Beitrag 4.2

 

  • Die Welt wird hinschauen auf dein Kind und dich mit ihm lobpreisen

 

 

Elisabet tröstet sie: »Maria, weine nicht!  Er ist dein Sohn, aber er ist auch Sohn Gottes. Gott wird an seinen Sohn denken und auch an dich, die du seine Mutter bist. Und wenn auch noch so viele grausam mit ihm sind, so werden viele, viele ihn lieben. So viele!  Durch alle Jahrhunderte hindurch!

 

Die Welt wird hinschauen auf dein Kind und dich mit ihm lobpreisen.

 

Dich, die Quelle, aus der die Erlösung kommt. Das Schicksal deines Sohnes! Erhöht zum König über die ganze Schöpfung! Bedenke dies, Maria! König: denn alles Erschaffene wird er erlösen, und daher wird er der König des Uni-versums sein. Auch auf Erden, im Verlauf der Zeit, wird er geliebt werden. Mein Sohn wird dem deinigen vorausgehen, und er wird ihn lieben. Der Engel hat es dem Zacharias gesagt, und er hat es mir aufgeschrieben. Ach! Welch ein Schmerz, ihn stumm zu sehen, meinen Zacharias! Aber ich hoffe, daß bei der Geburt des Knaben auch der Vater befreit wird von seiner Züchtigung. Bete du, die du der Sitz der Macht Gottes und die Ursache der Freude der Welt bist! Um das zu erlangen, opfere ich, soweit es mir möglich ist, mein Kind dem Herrn: sein ist es wahrhaftig, denn er hat es seiner Dienerin geliehen, um ihr die Freude zu schenken, Mutter genannt zu werden. Das ist die Bezeugung dessen, was der Herr an mir getan. Ich will ihn Johannes nennen (der Name Johannes bedeutet: Gott ist wohlgesinnt). Ist es vielleicht keine Gnade, mein Kind? Ist es nicht eine Gnade, die Gott mir zuteil hat werden lassen?«

»Und Gott, auch ich bin davon überzeugt, wird dir diese Gnade schenken. Ich werde darum beten, mit dir.«

»Es tut mir so weh, ihn stumm zu sehen!« Elisabet weint.

»Wenn er schreibt, da er ja nicht mehr mit mir sprechen kann, dann scheint es mir, als seien Berge und Meere zwischen mir und meinem Zacharias. Nach vielen Jahren süßer Worte schweigt sein Mund nun. Gerade jetzt, da es so schön wäre, über das zu sprechen, was kommen soll. Ich unterlasse es sogar zu reden, um nicht zusehen zu müssen, wie er sich abmüht, mir durch Zeichen zu antworten. Ich habe so viel geweint! Wie sehr habe ich mich nach dir ge-sehnt!

Die Leute beobachten, reden, kritisieren. Die Welt ist nun einmal so. Und wenn man Sorgen oder Freuden hat, braucht man Verständnis, nicht Kritik. Jetzt scheint mir das Leben wieder ganz anders, viel besser; ich fühle die Freude in mir, seit du bei mir bist. Ich fühle, daß meine Prüfung vorübergeht; daß ich bald glücklich sein werde. So wird es sein, nicht wahr? Ich ergebe mich in alles. Aber wenn Gott doch meinem Gatten verzeihen möchte! Wenn ich ihn doch wieder beten hörte, wie früher!«

Maria streichelt und ermuntert sie, und um sie etwas abzulenken, lädt sie Eli-sabet ein, mit ihr in den sonnigen Garten zu gehen. Sie gehen durch eine gut gepflegte Laube bis zu einem ländlichen, kleinen Wachtturm, in dessen Lö-chern Tauben nisten. Maria streut lächelnd Körner; die Tauben stürzen sich mit viel Geflatter auf sie und kreisen gurrend um sie. Auf den Kopf, auf die Schul-ter, auf Arme und Hände lassen sie sich nieder, strecken ihre rosafarbenen Schnäbel vor, um die Körner aus ihrer hohlen Handfläche zu picken und mit Anmut selbst die rosigen Lippen und die in der Sonne glänzenden Zähne zu berühren. Maria nimmt aus einem Säckchen blonde Körner und lacht herzlich über diese aufdringliche Gier.

»Wie sie dich gern haben!« sagt Elisabet. »Kaum bist du einige Tage bei uns, und schon lieben sie dich mehr als mich, die ich sie immer gefüttert habe.«

Der Spaziergang wird fortgesetzt. Sie gelangen zu einem Zaun an der Grenze des Baumgartens, wo etwa zwanzig Ziegen mit ihren Zicklein grasen.

»Kommst du von der Weide?« fragt Maria einen Hirtenbuben und streichelt ihn.

»Ja, mein Vater hat mir gesagt: „Geh nach Hause! Bald wird es regnen und einige Tiere werden Junge bekommen. Sorge dafür, daß trockenes Heu und eine Bettstatt bereit sind!“ Dort kommt er!« und der Bub zeigt hin zum Wald, aus dem ein zittriges Gemecker ertönt.

Maria streichelt ein blondes Zicklein, das sich wie ein Kind an sie schmiegt und trinkt zusammen mit Elisabet von der eben gemolkenen Milch, die der Hirten-knabe ihnen anbietet. Die Herde nähert sich mit einem Hirten, der wuchtig und struppig ist wie ein Bär. Er muß aber ein gutmütiger Mensch sein, denn er trägt auf seinen Schultern ein jammerndes Schaf. Nun legt er es sanft nieder und erklärt: »Es wird bald ein Lämmlein haben. Es konnte vor Schwäche und Mü-digkeit kaum mehr gehen. Daher habe ich es auf die Schultern genommen und bin gelaufen, um rechtzeitig da zu sein.« Das Schaf, das vor Schmerzen hinkt, wird von dem Knaben zum Schafstall geführt.

Maria hat sich auf einen Stein gesetzt und scherzt mit den Zicklein und Lämm-lein. Sie bietet den rosigen Mäulchen Kleeblüten an. Ein schwarzweißes Zick-lein legt seine Pfoten auf ihre Schultern und beschnuppert ihre Haare. »Das ist kein Brot«, lacht Maria. »Morgen bringe ich dir eine Kruste. Sei nun lieb!« Auch Elisabet ist wieder heiter und lacht dazu.

 

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Ankunft im Haus des Zacharias

 

 

 

Beitrag 3.1

 

  • Jetzt kommt Maria in das Dorf

 

 

  • Ich befinde mich in einer bergigen Gegend. Es sind keine hohen Berge, aber auch nicht mehr Hügel. Es gibt da Gipfel und Schluchten, wie im echten Gebirge, wie in unserem toskanisch-umbrischen Apennin.
  • Die Vegetation ist üppig und prachtvoll und es ist reichlich frisches Wasser vorhanden, das die Weiden und die gepflegten Obstgärten grün erhält. In der Nähe der Häuser gibt es auch Reben. Es muß Frühling sein, denn die Trauben sind schon groß wie Wickenkörner. Die Äpfel haben schon die Blüten verloren und grüne Kügelchen angesetzt, und an den Spitzen der Feigenäste werden schon die ersten kleinen Früchte sichtbar. Die Wiesen gleichen einem weichen, tausendfarbigen Teppich. Auf ihnen weiden die Herden, weiße Flecken auf dem grünen Smaragd des Grases.
  • Maria reitet auf ihrem Eselchen auf einem ziemlich guten Weg, der wohl die Hauptstraße des Ortes ist; die Ortschaft, die ganz ansehnlich zu sein scheint, liegt auf einer Anhöhe.
  • Meine übliche innere Stimme sagt mir, daß dieser Ort Hebron sei. An einer Kreuzung steht auf einem Stein geschrieben: Hebron. Man sprach mir von „Montana“. Aber ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Mir wird die-ser Name angegeben. Ich weiß nicht, ob Hebron die ganze Gegend be-deutet oder nur der Name der Ortschaft ist.

 

Jetzt kommt Maria in das Dorf.

 

Frauen unter den Türen – es ist gegen Abend – bemerken die Ankunft der Fremden und machen sich gegenseitig darauf aufmerksam.

Sie folgen ihr mit den Blicken und haben keine Ruhe, bis sie sehen, daß sie vor einem der schönsten Häuser mitten in der Ortschaft anhält. Vor dem Haus befindet sich ein Garten. Dahinter und ringsum sind gut gepflegte Obstbäume. Weiter hinten liegt eine weite Wiese, die, der Gebirgsformation folgend, steigt und fällt; sie endet schließlich an einem Wald mit hohen Bäumen, die den wei-teren Blick versperren. Der ganze Bereich ist eingezäunt von Maulbeerbäumen und wilden Rosensträuchern.

  • Ich kann nicht gut unterscheiden, was sie tragen; da die Blüten und Blätter der dornigen Sträucher sich sehr ähnlich sehen, kann man sich, solange keine Früchte auf den Zweigen sichtbar sind, leicht täuschen.

Vor dem Haus, also auf der dem Dorf zugewandten Seite, ist der Platz mit ei-nem weißen Gemäuer umgeben, auf dem sich echte Rosenstöcke befinden, zwar ohne Blüten, aber voller Knospen. In der Mitte ein geschlossenes Eisen-gitter.

  • Man sieht sofort, daß dieses Haus einem Vornehmen des Ortes oder je-denfalls wohlhabenden Leuten gehört, denn alles zeugt, wenn nicht von ausgesprochenem Reichtum, so doch von einer gewissen Wohlhabenheit. Alles ist in guter Ordnung.

Maria steigt vom Esel und nähert sich dem Gitter. Sie schaut durch die Eisen-stangen, sieht aber niemanden. So sucht sie, sich bemerkbar zu machen. Ein Frauchen, neugieriger als alle übrigen, ist ihr gefolgt und weist sie hin auf ei-nen eigenartigen Gegenstand, der als Glocke dient.

  • Es sind zwei Metallstücke an einer Achse. Wenn man die Achse mittels einer Kordel bewegt, schlagen sie aneinander und erzeugen einen Klang wie den einer Glocke oder eines Gongs.

Maria zieht an der Kordel, aber so sanft, daß niemand auf das zarte Klingeln aufmerksam wird. Da kommt die kleine Alte mit ihrer großen Nase, dem vor-stehenden Kinn und dazwischen einem Mundwerk für zehn, greift nach der Kordel und zieht und zieht.

  • Sie läutet, als wolle sie einen Toten erwecken.

»So muß man ziehen! Wie wollen Sie sich sonst bemerkbar machen? Wissen Sie, Elisabet ist alt, ebenso Zacharias. Dazu ist er auch noch stumm und taub. Auch die beiden Diener sind alt; das müssen Sie wissen. Sind Sie niemals hier

gewesen? Kennen Sie Zacharias? Sind Sie . . . «

Vor einem Redeschwall und einer Flut von Fragen wird Maria durch einen her-beihinkenden Alten gerettet, der wohl Gärtner oder Bauer ist, denn er hält ein Rebenmesser in der Hand und trägt an der Seite eine Hippe. Er öffnet, und Maria tritt ein, dankt dem Frauchen, aber, oh weh, sie beantwortet die Frage nicht.

  • Welch eine Enttäuschung für die Neugierige!

Kaum eingetreten, sagt Maria: »Ich bin Maria, die Tochter des Joachim und der Anna aus Nazareth, eine Nichte eurer Herren.«

 

Der Alte verneigt sich, grüßt und ruft alsdann: »Sara! Sara!« Dann öffnet er das Gitter, um das Eselchen hereinzulassen, das draußen geblieben war; denn Maria war, um sich von der aufdringlichen Frau zu befreien, schnell eingetre-ten, und der Gärtner hatte ebenso schnell das Gitter vor der Nase der Alten geschlossen. Und während er den Esel hereinführt, sagt er: »Ah! Ein großes Glück und ein großes Unglück sind über dieses Haus gekommen. Der Him-mel hat der Unfruchtbaren einen Sohn geschenkt, und der Allerhöchste sei da-für gebenedeit! Aber Zacharias ist vor sieben Monaten ungefähr stumm von Jerusalem zurückgekehrt. Er macht sich verständlich durch Zeichen oder schriftlich. Habt ihr das vielleicht schon gewußt? Meine Herrin hat sich so sehr nach dir gesehnt in dieser Freude und in dieser Mühsal. Immer wieder hat sie mit Sara von euch gesprochen und gesagt: „Hätte ich doch meine kleine Maria bei mir! Wäre sie doch noch im Tempel! Ich hätte Zacharias geschickt, um sie holen zu lassen. Aber nun hat der Herr gewollt, daß sie die Braut Josefs von Nazareth werde. Sie allein könnte mir in dieser Mühsal Trost sein und mir hel-fen, zu Gott zu beten; denn sie ist so gut. 

 

 

Und im Tempel wird sie vermißt.

 

Als ich am vergangenen Festtag mit Zacharias nach Jerusalem ging, um Gott dafür zu danken, daß er mir einen Sohn gegeben hat, hörte ich ihre Lehrerin sagen: ‚Der Tempel scheint die Kerubim der Herrlichkeit Gottes verloren zu haben, seit die Stimme Marias nicht mehr in seinen Mauern erklingt‘.“

Sara! Sara! Meine Frau ist etwas schwerhörig. Aber komm, komm, ich werde dich führen.«

  • Anstelle Saras erscheint oben an der Treppe an der Hausseite eine sehr betagte Frau voller Runzeln und mit sehr ergrautem Haar, das früher wohl tiefschwarz gewesen sein muß; denn sie hat noch  schwarze Wimpern und Augenbrauen. Einen eigenartigen Kontrast zu ihrem offenbaren Alter bildet die trotz des weiten Gewandes sichtbare Schwangerschaft.

Sie blickt nach unten, indem sie die Hand zum Schutz gegen die Sonne vor die Augen hält. Da erkennt sie Maria, hebt ihre Arme mit einem freudigen und er-staunten Ausruf zum Himmel und eilt, so gut sie kann, Maria entgegen. Auch  Maria, die sonst in ihren Bewegungen immer ruhig ist, läuft nun schnell wie ein junges Reh und erreicht den Treppenabsatz gleichzeitig mit Elisabet.

 

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Beitrag 3.2

 

  • Du bist gebenedeit unter den Frauen!

 

 

 

Maria umarmt mit lebhafter Herzlichkeit ihre Base, die bei ihrem Anblick Freudentränen weint.

 

Sie bleiben einen Augenblick umschlungen, dann löst sich Elisabet von der Umarmung mit einem: »Ah! «, einem Gemisch von Schmerz und Freude, und legt die Hände auf ihren schwangeren Mutterschoß. Sie neigt ihr Antlitz, das abwechselnd erbleicht und errötet. Maria und der Diener strecken ihre Hände aus, um sie zu stützen, denn sie wankt, als fühle sie sich übel. Aber nachdem sie eine Weile wie in sich gesammelt geblieben ist, erhebt sie ihr Gesicht so strahlend, daß sie ganz verjüngt erscheint; lächelnd und mit einer Ehrfurcht, als erblicke sie einen Engel, verneigt sie sich tief und sagt:

 

»Du bist gebenedeit unter den Frauen!

Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes! Wie habe ich es verdient, daß zu mir, deiner Dienerin, die Mutter meines Herrn kommt? Sieh: beim Ton deiner Stim-me jubelte das Knäblein in meinem Schoß, und als ich dich umarmte, hat der Geist des Herrn erhabene Wahrheiten zu meinem Herzen gesprochen. Selig bist du, weil du geglaubt hast, daß bei Gott auch das möglich sei, was dem menschlichen Verstand unmöglich erscheint! Gebenedeit bist du, denn durch deinen Glauben läßt du die Verheißungen in Erfüllung gehen, die der Herr dir gegeben und die von den Propheten für diese Zeit vorausgesagt worden sind! Gebenedeit bist du, weil du den Nachkommen Jakobs das Heil gebären wirst!  Gebenedeit bist du, weil du meinem Sohn die Heiligkeit gebracht hast; denn ich fühle, daß er aufhüpft wie ein fröhliches Zicklein in meinem Schoß; denn er fühlt sich befreit von der Last der Schuld und dazu berufen, der Vorläufer zu sein, der geheiligt ist vor der Erlösung durch den Heiligen, der in dir heran-wächst!«

  • Maria ruft nun unter Tränen, die wie Perlen aus den Augen zum lächeln-den Mund herabfließen, und mit zum Himmel erhobenem Blick und Hän-den, in einer Körperhaltung, die später so oft ihr Jesus annehmen wird:

»Hochpreise meine Seele den Herrn«, ...

  • ...und fährt fort mit dem Lobgesang, so wie er uns überliefert ist.
  • Zum Schluß, beim Vers: »Er hat sich Israels, seines Knechtes angenom-men usw.«, kreuzt sie die Hände über der Brust und verneigt sich bis zu Erde, in die Anbetung Gottes versunken.

Der Diener, der sich klugerweise entfernt hatte, als er sah, daß Elisabet keine Übelkeit befallen hatte, sondern daß sie ihre Gedanken Maria anvertrauen wollte, kehrt nun aus dem Baumgarten zurück mit einem ehrwürdigen Alten mit schneeweißem Bart und weißen Haaren, der mit großen Gesten und stam-melnden Kehllauten von weitem Maria begrüßt.

»Zacharias kommt«, sagt Elisabet und berührt die ins Gebet versunkene Jung-frau an der Schulter. »Mein Zacharias ist stumm. Gott hat ihn gestraft, weil er nicht geglaubt hat. Ich werde dir später davon erzählen. Aber nun hoffe ich, daß Gott ihm verzeihen wird, da du gekommen bist, du Gnadenvolle!«

Maria erhebt sich, geht Zacharias entgegen, verbeugt sich tief vor ihm und küßt den Saum seines weißen Gewandes, das bis zum Boden reicht.

  • Es ist sehr weit, dieses Gewand, und wird von einem gestickten Band an den Hüften zusammengehalten.

Zacharias äußert mit Zeichen seinen Willkommensgruß, und gemeinsam mit Elisabet treten sie in ein schön eingerichtetes Gemach ein.

Dort laden sie Maria ein, sich niederzusetzen, und lassen ihr eine Tasse frisch gemolkener, noch schäumender Milch und kleines Backwerk reichen.

Elisabet gibt der Dienerin, die schließlich gekommen ist, Anordnungen.

  • Diese hat Mehl an den Händen und in den Haaren, die ohnehin schon weiß sind und so noch weißer erscheinen. Sie ist wohl mit dem Backen beschäftigt.

Den Diener, den sie Samuel nennt, beauftragt sie, das Gepäck Marias in eine bestimmte Kammer zu tragen.

  • Alles Pflichten einer Hausherrin ihrem Gast gegenüber.

Inzwischen beantwortet Maria die Frage, die Zacharias mit einem Stift auf eine Wachstafel geschrieben hat.

  • Aus den Antworten entnehme ich, daß er sich über Josef erkundigt und über die Verlobung mit ihm.
  • Es wird mir auch klar, daß Zacharias kein übernatürliches Licht über den Zustand Marias und ihre Würde als Mutter des Messias erhalten hat.
  • Erst Elisabet, die sich ihrem Mann nähert und ihm liebevoll eine Hand auf die Schulter legt, klärt ihn mit den Worten auf: »Auch Maria ist Mutter ge
  • worden. Freue dich über ihr Glück!« Mehr sagt sie nicht. Sie schaut auf Maria, und Maria auf sie, ohne sie aufzufordern, mehr zu sagen; und so schweigt sie.

Eine schöne, überaus liebliche Vision!

  • Sie nimmt mir die Bitterkeit, die mir geblieben war von Judas Selbstmord.
  • Gestern Abend sah ich vor dem Einschlafen das Wehklagen Marias, die sich über den entseelten Leichnam des Erlösers auf dem Salbungsstein neigt. Sie war auf seiner rechten Seite mit dem Rücken gegen den Ein-gang der Grabesgrotte. Das Licht der Fackeln erhellte ihr Antlitz und ließ mich ihr armes, vom Schmerz verstörtes Antlitz sehen, das in Tränen ge-badet war.
  • Sie nahm Jesu Hand, streichelte sie, erwärmte sie an ihren Wangen, küß-te sie und streckte seine Finger, einen nach dem anderen küßte sie diese leblosen Finger. Dann liebkoste sie sein Antlitz und beugte sich, um den geöffneten Mund, die geschlossenen Augen und die verwundete Stirn zu küssen. Das rötliche Licht der Fackeln ließ die Wunden des gemarterten  Körpers noch frischer, die Grausamkeit der erlittenen Qualen und die Wirklichkeit des Todes noch deutlicher erscheinen.
  • Und so blieb ich in Betrachtung, solange mein Geist noch klar und wach war. Sodann, aufgewacht aus diesem Schlummerzustand, habe ich gebe-tet, mich beruhigt und zum Schlafen niedergelegt.

Dann begann die oben beschriebene Vision.

  • Aber die Mutter hat mir gesagt: »Bewege dich nicht, schau nur! Morgen kannst du schreiben.« Im Schlaf habe ich dann alles durchgeträumt. Als ich um 6.30 Uhr aufwachte, habe ich alles von neuem gesehen wie am Vorabend und im Traum. Während ich schaute, habe ich geschrieben.

 

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Beitrag 2

 

 

Von Jerusalem zum Haus des Zacharias

 

Wir sind in Jerusalem.

  • Ich erkenne es gut mit seinen Straßen und seinen Toren.

Das Ehepaar begibt sich zuerst zum Tempel.

  • Ich erkenne die Stallung, wo Josef den Esel am Tag der Darstellung im  Tempel eingestellt hat.

Auch jetzt läßt er die beiden Tiere dort, nachdem er sie hat grasen lassen; dann geht er mit Maria, um den Herrn anzubeten.

  • Nun kommen sie wieder, und Maria geht mit Josef in ein Haus von Beka-nten, wie mir scheint.

Dort stärken sie sich.

Maria ruht sich aus, bis Josef mit einem alten Mann kommt.

»Dieser Mann  nimmt denselben Weg wie du. Nur wenig hast du dann noch allein zurückzulegen, um zu deiner Base zu kommen. Du kannst dich ihm an-vertrauen; ich kenne ihn.«

Sie steigen wieder auf die Esel, und Josef begleitet Maria bis zum Tor (nicht zu demselben, durch das sie gekommen sind, sondern zu einem anderen). Dort verabschieden sie sich, und Maria nimmt ihren Weg zusammen mit dem Alten auf, der ebenso gesprächig ist, wie Josef schweigsam; er interessiert sich für tausend Dinge. Maria antwortet ihm geduldig.

Jetzt hat sie die kleine Truhe, die der Esel von Josef getragen hatte, vorn auf dem Sattel. Sie trägt nicht mehr den großen Mantel und auch nicht den Schal, der jetzt gefaltet auf der Truhe liegt.

  • Sie ist sehr schön in ihrem tiefblauen Gewand und dem weißen Schleier,  der sie vor der Sonne schützt. Wie schön ist sie doch!

Der Alte ist wohl etwas schwerhörig; denn um sich verständlich zu machen,    muß Maria recht laut sprechen; sie, die nicht laut zu sprechen gewohnt ist. Aber nun ist er müde geworden. Er hat das ganze Register seiner Fragen und Neuigkeiten erschöpft und schlummert, auf dem Sattel sitzend, während er sich von seinem Esel führen läßt, der die Straße gut kennt. Maria benützt die-se Pause, um sich in ihren Gedanken zu sammeln und um zu beten.

  • Es muß wohl ein Gebet sein, was sie da mit leiser Stimme singt, wobei sie zum blauen Himmel aufschaut und die Arme über der Brust hält.

Ihr Gesicht ist Licht und Seligkeit, Ausdruck ihres seelischen Zustandes.

  • Mehr sehe ich nicht.
  • Auch jetzt, da die Vision unterbrochen ist, wie gestern, bleibt die Mutter bei mir, sichtbar meinem inneren Blick, und zwar so klar, daß ich die rosi-ge Tönung ihrer ein wenig vollen, doch sanften Wangen, das lebhafte Rot ihres kleinen Mundes und den schönen Glanz ihrer himmelblauen Augen unter den dunkelblonden Lidern beschreiben kann.
  • Ich kann sagen, wie die gescheitelten Haare prächtig in drei Wellen zu bei den Seiten herabfallen und teilweise bis zur Hälfte die rosigen Öhrchen bedecken, um dann in ihrem blassen leuchtenden Gold unter dem Kopf-schleier zu verschwinden.
  • (Ich sehe sie nämlich, den Schleier über den Kopf gelegt, bekleidet mit ei-nem Gewand von paradiesischer Seide und einem leichten Mantel, der fein wie der Schleier und doch undurchsichtig ist.)
  • Ich kann auch sagen, daß das Kleid um den Hals von einem Saum mit ei-ner Kordel gehalten wird, deren Enden vorn an der Halswurzel geschnürt sind. Das Gewand wird um die Hüfte zusammengehalten durch ein breites Band von weißer Seide, dessen Enden auf der Seite herabhängen. Ferner kann ich sagen, daß das an Hals und Hüften zusammengehaltene Ge-wand auf der Brust sieben abgerundete, weiche Falten schlägt, der einzi-ge Schmuck an diesem überaus keuschen Gewand.
  • Ich kann sagen, daß die ganze Erscheinung Marias mit ihrer harmoni-schen und zarten Gestalt den Eindruck einer engelhaften Keuschheit er-weckt.
  • Je mehr ich sie anschaue, um so mehr leide ich bei dem Gedanken, wie sehr man sie hat leiden lassen, und ich frage mich, wie es möglich war, daß man mit ihr kein Mitleid hatte, die sie doch so milde und liebreich war, sogar in ihrer äußeren Erscheinung.
  • Ich schaue auf sie und höre den Tumult und das Geschrei auf dem Kal-varienberg; auch ihr galten alle die Schmähungen, der Spott und die Ver-wünschungen, mit denen man sie überhäufte, weil sie die Mutter des Ver-urteilten war.
  • Jetzt sehe ich sie schön und ruhig. Aber ihr gegenwärtiger Anblick löscht nichts aus von meiner Erinnerung an ihr leiderfülltes Antlitz in jenen Stun-den der Todesangst und der Trostlosigkeit und an ihr trauriges Gesicht im Haus von Jerusalem nach dem Tod Jesu.
  • Ich möchte sie streicheln und küssen auf ihre so zart geröteten Wangen, um das Gedenken an jene Tränen auszulöschen, das bei ihr sicherlich ebenso geblieben ist wie bei mir. Ich kann nicht fassen, welch einen Frie-den ich empfinde, sie in meiner Nähe zu haben. Ich denke mir, daß das Sterben bei ihrem Anblick süß sein muß, süßer als die schönste Stunde meines Lebens.
  • In der letzten Zeit, als ich sie nicht mehr so sah, so ganz für mich, habe ich gelitten wie wegen der Abwesenheit einer Mutter. Jetzt fühle ich wieder die unaussprechliche Freude, die mich im Dezember begleitete und wäh-rend der ersten Tage des Januar (1944), und ich bin glücklich; glücklich,  obwohl ich den ganzen Verlauf der Passion gesehen, der über mein Glück einen Schleier des Leidens breitet.
  • Es ist schwer zu sagen und zu verstehen zu geben, was sich am 11. Feb-ruar abends ereignete, und was ich empfand, als ich Jesus in seiner Pas-sion leiden sah. Es war eine Schau, die mich völlig umgewandelt hat. Sollte ich jetzt sterben oder in hundert Jahren, diese Vision würde immer dieselbe bleiben in ihrer Lebendigkeit und ihren Wirkungen. Vorher dachte ich an die Leiden Christi; jetzt habe ich sie erlebt, und es genügt ein Wort, der Blick auf ein Bild, um erneut zu erleiden, was ich an jenem Abend ge-litten habe, und zu erschaudern vor den Qualen und mich zu ängstigen ob seines trostlosen Leidens. Und auch wenn nichts daran erinnert, erwacht von selbst die quälende Erinnerung.
  • Maria beginnt zu sprechen , daher schweige ich.

 

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Beitrag 1

 

 

Maria und Josef auf dem Weg nach Jerusalem

 

  • Ich wohne der Abreise zur heiligen Elisabet bei.

Josef ist mit zwei Eselchen gekommen, um Maria abzuholen: eines ist für ihn, eines für Maria.

  • Eines der beiden kleinen Lasttiere hat außer dem gewöhnlichen Sattel ein merkwürdiges Gestell, das, wie ich nun erkenne, zum Lastentragen dient: eine Art Gepäckträger, auf dem Josef einen kleinen Holzkasten befestigt, ein Köfferchen, würden wir heute sagen, das er Maria gebracht hat, damit sie darin ihre Kleider unterbringe und sie so vor dem Regen schütze.
  • Ich höre, wie Maria sich bei Josef für dieses praktische Geschenk sehr be-dankt.

Sie füllt die Truhe mit Dingen, die sie bereits in ein Bündel verpackt hatte. Sie schließen die Haustür und machen sich auf den Weg.

  • Es ist kurz vor Tagesanbruch, denn ich sehe kaum etwas von einer Mor-genröte am Horizont.

Nazaret liegt noch im Schlummer. Die beiden morgendlichen Reisenden be-gegnen nur einem Hirten, der seine Schäflein vor sich hertreibt. Sie drücken und drängen einander, vielen blökenden Keilen gleich. Die Lämmchen blöken am aller meisten mit ihren scharfen, feinen Stimmen; sie möchten selbst im Laufen noch das mütterliche Euter erfassen. Aber die Mutterschafe eilen zum Weideplatz und laden sie mit stärkerem Blöken zum Weitertraben ein.

 

Maria betrachtet sie und lächelt, und da sie angehalten haben, um die Herde vorüberziehen zu lassen, neigt sie sich vom Sattel herunter und streichelt die sanften Tierlein, die im Vorübergehen den Esel streifen.

Als der Hirt mit einem Lämmlein auf dem Arme daherkommt, das eben gebo-ren wurde, und grüßt, lächelt Maria, streichelt das rosige Mäulchen des ver-zweifelt blökenden Lämmleins und sagt: »Suche deine Mama! Da ist sie; die verläßt dich nicht, Kleines!« Und sieh da, das Mutterschaf drängt sich an den Hirten heran, hebt sich auf die Hinterfüße und leckt das Mäulchen des Neuge-borenen.

  • Die vorüberziehende Herde erzeugt ein Geräusch, als regnete es auf Blät-ter, und läßt aufgewirbelten Staub und die Verzierungen der Fußstapfen auf dem Boden zurück.

Josef und Maria nehmen ihren Weg wieder auf. Josef ist mit einem großen Mantel bekleidet, Maria eingehüllt in eine Art gestreiften Schal, denn der Mor-gen ist sehr frisch. Sie befinden sich auf freiem Feld und reiten nebeneinander. Sie sprechen selten. Josef denkt an seine Arbeit, und Maria folgt den Gedan-ken, in die sie versunken ist, und lächelt dabei. Sie lächelt auch, wenn sie aus ihrer Sammlung heraustretend den Blick über die Umgebung schweifen läßt. Bisweilen schaut sie auf Josef; ein Hauch von wehmütigem Ernst verschlei-ert dann ihr Gesicht. Ihr Lächeln kehrt wieder zurück, wenn sie ihren fürsorg-lichen Bräutigam betrachtet, der wenig spricht und nur, um Maria zu fragen, ob sie bequem sitze und nichts benötige.

Jetzt werden die Straßen belebter, besonders in der Nähe von Dörfern oder innerhalb derselben. Sie reiten auf ihren trippelnden Eseln mit ihren lauten Schellen und halten nur einmal unter dem Schatten eines Buschwerks an, um etwas Brot und Oliven zu essen und an einer Quelle zu trinken, die in einer kleinen Grotte sprudelt; ein anderes Mal, um sich vor einem starken Regenguß zu schützen, der ganz unerwartet aus einer dunklen Wolke hernieder pras-selt. Sie haben sich unter einen Felsvorsprung begeben, der sie vor der Nässe schützt.

Josef will unbedingt, daß Maria sich den dicken, wasserundurchlässigen Man-tel umhängt, auf dem das Wasser herabgleitet. Maria muß seinem sorgendem Drängen nachgeben, und um sie davon zu überzeugen, daß er selbst auch geschützt ist, legt er sich die graue Decke des Esels über Kopf und Schultern.

  • Mit der Kapuze sieht Maria aus wie ein junger Mönch; sie rahmt ihr Ge-sicht ein, während der dunkelbraune Mantel, der am Hals geschlossen ist, sie ganz einhüllt.

Der Platzregen läßt nach, geht aber in einen lästigen feinen Regen über. Die beiden nehmen den Weg wieder auf, der nun ganz schlammig geworden ist. Aber es ist Frühling, und bald scheint erneut die Sonne und macht die Reise wieder angenehmer. Die beiden Eselchen trippeln nun fröhlicher auf ihrem Weg dahin.

  • Mehr sehe ich nicht; denn die Vision ist hier zu Ende.

 

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