Mariens Eltern und
die Zeit bis zur Geburt Mariens
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Stand: 07. September 2023
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Beitrag 1
Jesus sagt:
»Heute schreibe nur dies! Die Reinheit hat einen solchen Wert, daß der Schoß einer Frau den Unerfaßbaren nur umfassen konnte, weil sie die höchste Rein-heit besaß, die ein Geschöpf Gottes haben kann.
Die Allerheiligste Dreifaltigkeit stieg mit ihren Vollkommenheiten herab, wohnte mit ihrem unendlichen Sein in einem kleinen Raum – ohne dadurch von ihrer Unendlichkeit zu verlieren – und offenbarte sich mit ihren charakteristischen Eigenschaften:
Maria kann die „Zweitgeborene“ des Vaters genannt werden, weil sie wegen der verliehenen und bewußt bewahrten Vollkommenheit, wegen der Würde als Braut und Mutter Gottes und als Königin des Himmels die Zweite nach dem Sohn des Vaters ist; die Zweite im ewigen Gedanken des Vaters, der von Ewigkeit her an ihr Wohlgefallen fand.
Um sich den Menschen in einer neuen und vollkommenen Weise zu offenba-ren, welche das Zeitalter der Erlösung einleitet, wählte Gott nicht einen Stern des Himmels zu seinem Thron oder den Palast eines mächtigen Herrschers; auch nahm er nicht die Flügel der Engel zum Schemel seiner Füße. Vielmehr wollte er einen Schoß ohne Makel.
Auch Eva war ohne Makel erschaffen worden; aber sie hat sich aus freiem Wil-len verderben wollen. Maria, die in einer zerrütteten Welt lebte – während Eva von einer reinen umgeben war – wollte ihre Reinheit nicht einmal durch einen Gedanken an die Sünde beeinträchtigen. Sie wußte, daß die Sünde existiert. Sie sah ihre vielfältigen, schrecklichen Gesichter. Sie sah sie alle, auch das grauenhafteste: den Gottesmord. Aber sie lernte sie kennen, um für sie zu süh-nen und in alle Ewigkeit die zu sein, die Erbarmen mit den Sündern hat und für ihre Rettung betet.
Beitrag 2
Ich sehe das Innere eines Hauses. Dort sitzt eine bejahrte Frau an einem Web-stuhl. Nach ihrem sicherlich einst schwarzen, nun aber schon ergrauten Haar und ihrem Gesicht, das noch nicht gerunzelt, aber doch durch den Ernst der Jahre geprägt ist, möchte ich schätzen, daß sie 50–55 Jahre alt ist. Nicht älter.
Die Frau, die ich in einem hellerleuchteten Raum weben sehe, ist schön in ih-ren typisch hebräischen Gesichtszügen. Die halbgeöffnete Tür läßt den Blick über einen großen Garten schweifen, den ich aufgrund seiner Ausdehnung eher als ein kleines Gut bezeichnen möchte, das sich über ein welliges Ge-lände dahinzieht.
Sie sind stolz wie die einer Königin, aber zugleich auch sanft, als wäre über ihr adlerhaftes Aufblitzen ein himmelblauer Schleier gebreitet worden. Sanft und zugleich ein wenig traurig, wie wenn jemand trübsinnig verlorener Dinge ge-denkt. Die Gesichtsfarbe ist bräunlich, aber nicht übermäßig. Der Mund, ein klein wenig breit, ist schön geformt und hat einen ernsten, aber nicht harten Zug. Die Nase ist lang und fein, leicht nach unten gebogen. Eine Adlernase, die gut zu diesen Augen paßt. Die Frau ist kräftig, aber nicht dick, gut gebaut und, nach ihrer sitzenden Haltung zu schätzen, ziemlich groß.
Die vielfarbigen Spulen eilen schnell über den dunkelbraunen Webstuhl, und
das fertige Stück Tuch zeigt eine Verschlingung von Verzierungen und Roset-ten, in denen grün, gelb, rot und dunkelblau sich verflechten und vermischen wie in einem Mosaik.
Die Frau trägt ein ganz einfaches, tiefdunkles Gewand, dessen Violettrot an gewisse Stiefmütterchen erinnert. Auf ein Pochen an der Tür erhebt sie sich. Sie ist wirklich groß. Vor der Tür steht eine Frau, die fragt: »Anna, willst du mir deinen Krug geben? Ich werde ihn für dich füllen.« Die Frau hat einen lebhaf-ten Jungen von fünf Jahren bei sich, der sich sofort an das Kleid der genann-ten Anna schmiegt. Sie liebkost ihn, während sie in einen anderen Raum geht, und kommt mit einem schönen kupfernen Krug zurück, den sie der Frau mit den Worten gibt: »Immer bist du gut zu deiner alten Anna. Gott vergelte es dir an diesem Kind und an den Söhnen, die du hast und haben wirst, du Glück-liche!« Anna seufzt.
Die Frau schaut sie an und weiß nicht, was sie zu diesem Seufzer sagen soll. Um sie von dem Kummer, der sie offenbar bedrückt, abzulenken, sagt sie: »Ich lasse Alphäus hier, wenn er dir nicht lästig ist; so geht es schneller und ich kann dir viele Krüge und Schläuche füllen.« Alphäus freut sich, daß er bleiben darf, und der Grund ist verständlich. Kaum ist die Mutter fort, da nimmt ihn Anna auf ihre Schultern und geht mit ihm in den Garten hinaus.
Sie hebt ihn hoch in einem Laubengang, von dem goldgelbe Weintrauben her-abhängen, und sagt: »Iß, iß, die sind gut!« Und sie küßt ihn auf das vom Saft der Früchte klebrige Gesichtchen, während das Kind eifrig Beere um Beere verspeist. Dann lacht sie vor Freude und scheint gleich jünger mit den schönen Zähnen, die zum Vorschein kommen, und der Freude, die das Gesicht über-strahlt, als das Kind noch sagt: »Und was gibst du mir jetzt?« und sie dabei mit großen, graublauen Augen anschaut. »Was gibst du mir, wenn ich dir, wenn ich dir gebe, na, rate was!« Und das Kind klatscht in die Hände und sagt lachend: »Küsse, Küsse gebe ich dir, schöne Anna, gute Anna, Mama Anna.« Anna hört sich Mama nennen, drückt mit einem Freudenschrei den Kleinen an sich und sagt: »Oh, mein Schatz! Liebling, Liebling!« Bei jedem „Liebling“ küßt sie die rosigen Wangen. Dann gehen sie zu einem Schränkchen, und sie nimmt von einem Teller etwas Honigkuchen. »Ich habe ihn für dich gebacken, du Freude der armen Anna, weil du mich so gern hast. Aber sage mir, wie sehr liebst du mich?« Der Junge erinnert sich an das, was ihn in seinem bisherigen Leben am meisten beeindruckt hat, und sagt: »Wie den Tempel des Herrn.« Anna küßt ihn noch einmal auf die lebhaften Äuglein, auf das rosige Mündchen, und das Kind schmiegt sich an sie wie ein Kätzchen.
Beitrag 2.1
Da kommt vom Garten her ein alter Mann, etwas kleiner als Anna, mit vollem, schneeweißem Haar. Er hat ein helles Gesicht mit einem viereckig geschnit-tenen Bart und zwei türkisblauen Augen unter den hellbraunen, fast blonden Augenbrauen. Ein dunkelbraunes Gewand kleidet ihn.
Anna sieht ihn nicht, denn sie steht mit dem Rücken gegen den Ausgang. Er geht auf sie zu und spricht: »Und für mich nichts?« Anna wendet sich um und sagt: »Oh, Joachim, bist du mit deiner Arbeit fertig?« Gleichzeitig schmiegt sich der kleine Alphäus an Joachims Knie und sagt: »Auch für dich, auch für dich.« Joachim beugt sich zu ihm nieder. Das Kind wühlt in dem weißen Bart und gibt ihm einen schallenden Kuß.
Auch Joachim hat ein Geschenk für Alphäus. Er hielt es bisher in der linken Hand hinter dem Rücken; nun aber zeigt er den wunderschönen Apfel, der wie gemalt aussieht, und sagt lachend zum Kind, das erwartungsvoll die Händchen danach ausstreckt: »Warte, ich schneide ihn dir in Stücke. So kannst du ihn nicht essen; er ist ja fast größer als du.« Und mit einem Messerchen, das er sonst zum Beschneiden der Bäume und der Blumensträucher benützt, zerteilt er den Apfel in kleine Scheiben, die er mit großer Sorgfalt in den kleinen Mund steckt, als hätte er es mit einem noch im Nest sitzenden Vögelchen zu tun.
»Sieh doch die Augen, Joachim! Sind sie nicht wie zwei Stückchen des gali-läischen Meeres, wenn der Abendwind einen Wolkenschleier über den Himmel webt? « Bei diesen Worten legt Anna eine Hand auf Joachims Schulter und lehnt sich leicht an ihn: eine Haltung, die eine tiefe Gattenliebe bekundet; eine nach so langen Ehejahren ungetrübte Liebe.
Joachim schaut sie liebevoll an und nickt, indem er sagt: »Sehr schön sind sie! Und diese Löckchen? Haben sie nicht die Farbe des Heus, wenn es die Sonne getrocknet hat? Schau: ein Gemisch von Gold und Kupfer.«
»Ach, wenn wir ein Kind gehabt hätten: so hätte ich es mir gewünscht; mit die-sen Augen und diesen Haaren.« Anna hat sich niedergebeugt, ja niederge-kniet, und küßt mit einem schweren Seufzer die beiden großen blaugrauen Augen.
Auch Joachim seufzt. Aber er will sie trösten, legt ihr eine Hand auf die krau-sen, weißen Haare und sagt: »Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Gott ist allmächtig. Solange man lebt, kann das Wunder jederzeit stattfinden; beson-ders wenn man ihn liebt und sich gegenseitig liebt.« Joachim betont diese letz-ten Worte. Anna aber schweigt niedergeschlagen und hat das Haupt geneigt, um die beiden Tränen zu verbergen, die über ihre Wangen herunterrollen; nur der kleine Alphäus bemerkt sie und ist erstaunt und betrübt, daß seine große Freundin weint wie er selbst manchmal. Er hebt ein Händchen und wischt die Tränen ab.
»Weine nicht, Anna!« tröstet sie Joachim. »Wir sind auch so glücklich. Ich we-nigstens bin es, weil ich dich besitze.« »Auch ich bin glücklich, weil ich dich habe. Aber ich habe dir keinen Sohn geschenkt. Vielleicht habe ich dem Herrn in etwas mißfallen, da er mir den Schoß verschlossen hat.«
»Oh, meine Gattin! Worin solltest du ihm mißfallen haben, du Heilige? Höre! Gehen wir für dieses unser Anliegen noch einmal zum Tempel! Nicht nur we-gen des Laubhüttenfestes [Ex 23,14–17]. Beten wir lange! Vielleicht ergeht es dir wie Sara, wie Hanna, der Frau des Elkana. Lange haben sie gewartet und haben geglaubt, sie seien verworfen, weil sie kinderlos blieben. Statt dessen reifte für sie im Himmel Gottes ein heiliges Kind [1 Kön 1; 2,11]. Lächle, meine Gattin! Dein Weinen schmerzt mich mehr als die Kinderlosigkeit. Wir werden Alphäus mit uns nehmen und ihn beten lassen; ihn, der unschuldig ist und Gott wird sein Gebet und unser Gebet annehmen und erhören.«
»Ja, machen wir dem Herrn ein Gelübde. Ihm soll das Kind gehören, wenn er es uns gibt. Ach, könnte ich mich doch „Mama“ rufen hören!«
Da sagt Alphäus, der erstaunte und unschuldige Zuschauer: »Ich nenne dich doch so!« »Ja, meine liebe Freude.«
Hier endet die Vision.
Beitrag 3
Außerhalb der Mauern von Jerusalem auf den Hügeln und zwischen den Öl-bäumen hat sich eine große Menschenmenge niedergelassen. Es scheint ein riesiger Marktplatz zu sein. Aber man sieht keine Tische und Buden. Auch hört man nicht die Stimmen von Marktschreiern und Verkäufern. Keine Spiele. Es sind da sehr viele Zelte aus rauher, sicher wasserundurchlässiger Leinwand, die über Pfähle, die im Boden befestigt sind, gezogen ist.
Von den Pfählen hängen grüne Zweige herab, die zur Zierde und zur Erfri-schung dienen. Andere Zelte bestehen ganz aus Zweigen, die im Boden be-festigt wurden und so miteinander verbunden sind, daß sie kleine, grüne Lau-ben bilden. Unter jedem dieser Zelte befinden sich Menschen jedes Alters und jedes Standes. Ihre Gespräche sind friedvoll und gesammelt, höchstens von einem Kinderschrei unterbrochen.
Die Nacht bricht herein, und schon leuchten da und dort, in diesem eigenarti-gen Lager, Öllaternen auf. Um diese Lichter versammelt nehmen einige Fa-milien ihre Abendmahlzeit ein; man sitzt auf dem Boden, die Mütter mit ihren Kleinen auf dem Schoße. Viele Kinder schlafen ermüdet ein, oft noch ein Stück Brot zwischen den rosigen Fingerchen, und lassen ihre Köpfchen auf die Brust der Mutter sinken, wie Kücken unter der Henne. Die Mütter beenden ihre Mahl-zeit, so gut sie es können, mit der freien Hand, während die andere das Kind an ihr Herz drückt. Andere Familien hingegen sind noch nicht bei der Mahlzeit. Man spricht im Halbdunkel miteinander und wartet darauf, daß das Essen bereit sei. Kleine Feuer brennen hier und dort, und um sie herum sind die Frauen beschäftigt. Ein Wiegenlied, langsam, fast klagend gesungen, wiegt ein noch unruhiges Kind in den Schlaf.
Oben in der Höhe ein schöner, heiterer Himmel, der immer dunkelblauer wird, bis er einem gewaltigen Theaterzeltdach aus weichem, schwarzblauem Samt gleicht, auf dem unsichtbare Künstler und Dekorateure ganz allmählich Perlen und Lichter erscheinen lassen; einige einzeln, andere in bizarren, geometri-schen Gebilden, unter denen der große und der kleine Bär mit ihren Wagenfor-men hervorstechen, die Wagenstangen auf dem Boden aufgestützt und die Zugtiere ausgespannt. Der Polarstern strahlt in vollem Glanz.
Sieh da, Anna kommt von einem Feuer. Sie trägt verschiedene Dinge auf ei-nem breiten, flachen Brotfladen, der ihr als Teller dient.
An ihren Kleidern hängt Alphäus, dessen Kinderstimmchen hörbar ist. Joachim beeilt sich, die Laterne anzuzünden, als er Anna sieht. Er hatte auf der Schwel-le seiner kleinen Laubhütte mit einem dreißig jährigen Mann gesprochen, den Alphäus von weitem mit einem Schrei als Papa begrüßt hat.
Anna schreitet in fürstlichem Gang durch die Reihen der Zelthütten. Fürstlich und doch bescheiden. Sie sieht auf niemanden stolz herab. Sie richtet den Kleinen einer armen, sehr armen Frau auf, der ihr gerade vor die Füße gefal-len ist, als er bei seinem hastigen Laufen stolperte; und da er sich das Ge-sichtchen beschmutzt hat und weint, reinigt und tröstet sie ihn und übergibt ihn der herbeieilenden Mutter mit den Worten: »Oh, es ist nichts! Ich freue mich, daß er sich nicht weh getan hat. Welch ein schönes Kind! Wie alt ist es?« »Drei Jahre. Er ist das Zweitjüngste; aber in Kürze werde ich noch ein Kind bekommen. Jetzt habe ich sechs Knaben und deshalb hätte ich gerne ein Mädchen. Für eine Mutter bedeutet ein Mädchen viel.«
»Der Allerhöchste hat dich sehr beschenkt, Frau!« Anna seufzt. Die andere: »Ja, ich bin arm, aber die Kinder sind unsere Freude, und die größeren helfen schon bei der Arbeit mit. Und du, Herrin (daß Anna aus vor nehmen Kreisen kommt, erkennt die Frau an ihrem ganzen Benehmen), wie viele Kinder hast du?« »Keine« »Keine?! Ist das nicht das deinige?« »Nein, es gehört einer braven Nachbarin; es ist mein Trost.« »Sind sie dir gestorben, oder ...«
»Ich habe nie Kinder gehabt.« »Oh!« Die arme Frau schaut sie mitleidig an. Anna grüßt sie mit einem tiefen Seufzer und geht zu ihrer Sippe. »Ich habe auf mich warten lassen, Joachim. Eine arme Frau hat mich aufgehalten, eine Mut-ter von sechs Knaben, denke dir! Und in Bälde wird sie noch ein Kind bekom-men.« Joachim seufzt.
Der Vater von Alphäus ruft seinen Buben; aber dieser antwortet: »Ich bleibe bei Anna. Ich helfe ihr.« Alle lachen. »Laß ihn nur! Er ist uns keine Last. Er ist noch nicht zur Einhaltung des Gesetzes verpflichtet. Hier oder dort. Er ist wie ein Vöglein, das gefüttert wird«, sagt Anna und setzt sich nieder mit dem Kind
auf dem Schoß.
Vorher hat sie ihren Gemahl bedient. Sie selbst ißt als letzte.
Die Nacht wird immer sternenklarer und die Lichter im Lager immer zahlrei-cher. Dann erlöschen allmählich viele Lichter. Es beginnt bei jenen, die zuerst ihr Abendbrot eingenommen haben und die jetzt schlafen gehen. Auch der Lärm schwindet langsam. Kinderstimmen sind nicht mehr zu hören. Nur der eine oder andere Säugling läßt sein Stimmchen vernehmen wie ein Lämmlein, das nach der Muttermilch verlangt. Die Nacht breitet ihren Atem über Perso-nen und Dinge und verwischt Mühen und Erinnerungen, Hoffnungen und Sor-gen; aber vielleicht leben diese jetzt im Traum neu auf.
Während Anna Alphäus wiegt, der anfängt, auf ihren Armen einzuschlafen, sagt sie zu ihrem Gatten: »Letzte Nacht habe ich geträumt, daß ich im nächs-ten Jahr für zwei Feste in die heilige Stadt kommen werde, anstatt für eines allein. Und ein Fest wird die Opferung meines Kindes im Tempel sein. Oh! Joachim! «
»Hoffe, hoffe, Anna! Hast du sonst nichts vernommen? Hat dir der Herr nichts ins Herz geflüstert?« »Nichts. Es war nur ein Traum.« »Morgen ist der letzte Gebetstag. Alle Opfer sind bereits dargebracht, aber wir werden die Gebete morgen nochmals feierlich wiederholen. Wir wollen Gott überwältigen mit un-serer treuen Liebe. Ich denke immer, dir wird es wie der Hanna des Elkana ergehen.« »So Gott will und ich möchte auch jemandem begegnen, der mir sagt: „Geh in Frieden! Der Gott Israels hat dir die Gnade gewährt, um die du ihn bittest!“« »Wenn die Gnade kommt, wird dein Kind es dir sagen, wenn es sich das erste Mal in deinem Schoße regt. Es wird die Stimme der Unschuld sein, daher die Stimme Gottes.«
Jetzt schweigt das Lager in der Finsternis. Auch Anna bringt Alphäus in die Nachbarhütte zurück und legt ihn aufs Heu neben die kleinen Brüder, die be-reits schlafen. Dann legt sie sich neben Joachim nieder, und auch ihr Lämp-chen erlöscht. Eines der letzten Sternchen der Erde. Viel schöner leuchten die Sterne am Firmament, die über die Schlafenden wachen.
Beitrag 4
Jesus sagt:
»Die Gerechten sind immer weise, denn sie sind Freunde Gottes, leben in sei-ner Gemeinschaft und werden von ihm belehrt; von ihm, der die unendliche Weisheit ist. Meine Großeltern waren gerecht und besaßen daher die Weisheit. Sie konnten in Wahrheit sagen, wie es im Buch steht, welches das Lob der Weisheit singt: „Ich habe sie geliebt und gesucht von meiner frühesten Jugend an und habe beschlossen, sie mir zur Braut zu nehmen.“ [Weish 8,2]
Anna besaß eine große Tugend. Ja, alle Tugenden waren in ihr vereint, wie ein duftender Blumenstrauß, um etwas einziges, Schönes zu bilden: die Tugend-haftigkeit. Eine königliche Tugend, würdig, vor dem Thron Gottes zu stehen.
Joachim hatte sich daher zweimal mit der Weisheit vermählt, „indem er sie liebte mehr als jede andere“. Er hat sich mit der Weisheit Gottes vermählt, die eingeschlossen war im Herzen der gerechten Frau. Anna, die Tochter Aarons, hatte nichts anderes gewollt, als ihr Leben mit einem gerechten Mann zu tei-len, in der Überzeugung, daß die Freude der Familie in der Rechtschaffenheit besteht. Und um ein Sinnbild der „starken Frau“ zu sein, fehlte ihr nur die Kro-ne der Kinder, die der Ruhm der verheirateten Frau und die Rechtfertigung der Vermählung ist, von der Salomon spricht [Spr 17,6]. Auch zu ihrem Glück fehl-ten ihr nur diese Kinder, die Blüten des Baumes, der zu einem einzigen gewor-den ist mit seinem Nachbarbaum und von ihm den Reichtum jener neuen Früchte empfangen hat, in denen sich die Tugenden beider zu einer einzigen verbinden; denn vonseiten des Gatten mußte sie niemals eine Enttäuschung erleben.
Da sie nun alterte und seit vielen Jahren Joachims Gattin war, blieb sie für ihn dennoch immer „die Braut seiner Jugend, seine Freude, das geliebte Reh, die schlanke Gazelle“ [Spr 5,18–19], deren Liebkosungen jedes Mal den Zauber des ersten Vermählungsabends hatten und voller Zärtlichkeit seine Liebe ent-zückten, indem sie ihn frisch erhielten wie eine Blume, die der Tau benetzt und glühend wie das Feuer, das immer von neuen genährt wird. In ihrer Betrübnis ob der Kinderlosigkeit richteten sie aneinander Worte des Trostes, in Gedan-ken und in den schweren Augenblicken.
Wenn sie auch in ihrer Demut nicht daran dachten, so zitterten doch ihre hoff-nungsvollen Herzen beim ersten Schall der göttlichen Verheißung. Schon liegt Gewißheit in den Worten Joachims: „Hoffe, hoffe, wir werden Gott besiegen durch unsere treue Liebe.“
Sie wünschten sich einen Sohn: sie erhielten die Mutter des Herrn. Die Worte des Buches der Weisheit scheinen für sie geschrieben worden zu sein: „Durch sie werde ich Ruhm ernten vor dem Volk, durch sie werde ich Unsterblichkeit erlangen und hinterlasse ewiges Gedenken meiner bei jenen, die nach mir kommen werden“ [Weish 8,13]. Um all das zu erlangen, mußten sie aber zu Königen einer wahren und dauerhaften Tugend werden, die kein Ereignis ver-letzen kann.
Die Keuschheit der Gatten! Sie besaßen sie, denn um keusch zu sein, bedarf es nicht der Jungfernschaft.
Auch das keusche Brautgemach hat seinen Schutzengel, der für eine gute Nachkommenschaft sorgt, für die die Tugend der Eltern eine Richtlinie im Le-ben bildet.
Beitrag 5
Im Innern hat sich nichts verändert, wenn man von den zahlreichen, blühen-den Zweigen absieht, die hier und dort Vasen füllen und sicherlich von den Obstbäumen im Garten kommen, die jetzt alle in Blüte stehen: eine Wolke, deren Farbe vom Weiß des Schnees ins Rot gewisser Korallen übergeht. Auch die Arbeit Annas ist nicht mehr die gleiche. An einem Webstuhl, der viel kleiner ist als der frühere, webt sie schöne Linnentücher und singt im Rhythmus der Bewegung ihrer Füße einen Lobgesang. Sie singt und lächelt. Für wen? Für sich selbst, für etwas, das sie in ihrem Innern sieht. Der Gesang ist langsam und doch freudig.
»Ehre sei dem Vater, dem Allmächtigen, der von den Söhnen Davids Liebe erntet. Ehre sei dem Vater! Hohe Gnade hat mich heimgesucht vom Himmel her. Der alte Baum gibt einen neuen Sproß, der mich beglückt. Am Fest der Lichter warf die Hoffnung ihren Samen: nun sieht der Blütenduft des Nisans ihn keimen. Wie der Mandelbaum erblüht mein Fleisch zur Frühlingszeit. Es fühlt, daß seine Frucht erscheinen wird, zur Abendzeit. Auf diesem Zweig blüht eine Rose, prangt einer der süßesten Äpfel; ein Stern geht auf, hell leuchtet er am Himmel; ein junges, unschuldiges Leben ist uns gegeben. Die Freude des Hauses, des Gatten und der Gattin. Lob sei dem Herrn, ja meinem Herrn, der Erbarmen mit mir hatte! Sein Licht hat mir verkündet: Ein Stern wird zu dir kommen. Ehre, Ehre sei Dir! Dein wird die Frucht der Pflanze sein. Die erste und letzte, heilige und reine, die ein Geschenk des Herrn ist. Dein soll sie sein, und durch sie wird Freude und Frieden auf Erden kommen. Webschiffchen, flieg! Der Faden soll zu Windeln fürs Kindlein werden. Es wird geboren wer-den! Gott preisend steige empor meines Herzens Jubel!«
Joachim tritt ein, während sie dabei ist, ihren Gesang zum dritten Mal zu wie-derholen. »Bist du glücklich, Anna? Du bist wie ein Vöglein an einem Früh-lingsmorgen. Welch ein Gesang mag das wohl sein? Nie habe ich ihn von je-mandem gehört. Woher kommt er uns?«
»Aus meinem Herzen, Joachim.« Anna hat sich erhoben und geht ihrem Gat-ten voll lachender Freude entgegen. Sie sieht jünger und schöner aus. »Als Poetin habe ich dich noch nicht gekannt«, sagt ihr Gemahl und schaut sie mit offensichtlicher Bewunderung an. Sie scheinen nicht mehr ein bejahrtes Paar.
»Ich kam aus dem Hintergrund des Gartens, da hörte ich dein Singen. Seit Jahren hörte ich dich nicht mehr mit der Stimme der verliebten Turteltaube sin-gen. Willst du mir diesen Gesang noch einmal wiederholen?« »Ich würde ihn dir wiederholen, auch wenn du mich nicht darum gebeten hättest. Die Kinder Israels haben stets dem Gesang den wahrsten Ausruf ihrer Hoffnung, ihrer Freude und ihres Schmerzes anvertraut.
Ja, auch mir selbst, denn die Sache ist so groß, daß sie mir noch nicht wahr scheint, obwohl ich ihrer doch so sicher bin.« Und sie beginnt aufs neue zu singen. Als sie die Stelle erreicht: »Auf diesem Zweig blüht eine Rose, prangt einer der süßesten Äpfel; ein Stern geht auf ... « erfaßt ihre schöne Altstimme ein Zittern; sie stockt, schaut Joachim mit einem Freudenschluchzer an und ruft mit erhobenen Armen aus:
Dann stürzt sie an sein Herz, in die Arme, die er ihr entgegengestreckt hat und mit denen er jetzt seine glückliche Gemahlin an sich drückt.
Dazu der sanfte Vorwurf, der in das graue Haar von Anna gesprochen wird: »Und du hast mir nichts davon gesagt!«
Beitrag 5.1
»Ja, ich wollte dessen gewiß sein. Alt, wie ich bin, mich als Mutter zu wissen. Ich konnte es nicht glauben und ich wollte dir nicht die bitterste aller Enttäu-schungen bereiten. Schon seit Ende Dezember fühle ich eine tiefe Veränder-ung in meinem Innersten, weil, wie gesagt, ein neuer Zweig sich bildet. Aber nun bin ich der Frucht auf diesem Zweig sicher. Siehst du, dieses Tuch ist schon für den kommenden Sprößling.«
»Ist das nicht der Flachs, das du im Oktober in Jerusalem erworben hast?«
»Ja, und dieser Flachs habe ich gesponnen, während ich wartete und hoffte. Ich hoffte, denn als ich am letzten Tag im Tempel betete, solange eine Frau im Haus Gottes verweilen darf, und es war ja schon Abend, erinnerst du dich, daß ich da sagte: „Noch, noch ein wenig!“?
Und sieh da: Im Schatten, der schon das Innere des heiligen Ortes erfüllte, den ich mit der ganzen Anziehungskraft der Seele betrachtete, um von dem gegenwärtigen Gott eine Zusage zu erhalten, sah ich ein Licht, einen Funken schönsten Lichtes. Es war weiß wie der Mond, hatte aber in sich das Leuchten aller Perlen und Edelsteine, die es auf Erden gibt. Es schien, als ob einer der kostbarsten Sterne des Vorhangs, einer der Sterne unter den Füßen der Keru-bim, sich loslöste und ein über natürliches Licht ausstrahlte. Es schien, als ob jenseits des heiligen Vorhanges von der Herrlichkeit Gottes ein Feuer ausgin-ge, auf mich zueilte und beim Durchdringen der Luft mit himmlischer Stimme sänge:
Daher singe ich: „Ein Stern wird zu dir kommen.“ Welch ein Sohn wird der un-srige sein, der uns als Sternenlicht im Tempel geoffenbart wird und der am Fest der Lichter spricht: „Da bin ich.“ Mögest du richtig gesehen haben, als du mich für eine neue Hanna Elkana hieltest [1 Sam 1,9]. Wie werden wir unser Kind nennen, das ich lieblich wie plätscherndes Wasser in meinem Schoß re-den höre mit seinem kleinen Herzen, das schlägt und schlägt wie jenes eines Turteltäubchens in der Höhlung der Hände?«
»Wenn es ein Knabe ist, so werden wir ihn Samuel nennen; ist es aber ein Mädchen, so geben wir ihm den Namen Stella (Stern). Dieses Wort hat deinen Gesang beendet, als mir die Freude zuteil wurde, mich Vater zu wissen; dies ist die Gestalt, die es angenommen hat, um sich im heiligen Schatten des Tempels zu offenbaren.«
»Stern, unser Stern, denn ich weiß nicht, aber ich denke, es wird ein Mädchen sein. Es scheint mir, daß so sanfte Liebkosungen nur von einem allerliebsten Töchterchen kommen können. Denn nicht ich trage es; es bereitet mir keine Schmerzen. Sie ist es, die mich dahinträgt auf einem himmelblauen, blumen-reichen Pfad, als ob ich getragen würde von heiligen Engeln und die Erde schon weit entfernt wäre.
Ich habe immer von den Frauen gehört, daß das Empfangen und Schwanger-sein Schmerzen mit sich bringt. Aber ich fühle keinen Schmerz. Ich fühle mich stark, jung und frisch, mehr als damals, da ich dir in ferner Jugendzeit meine Jungfräulichkeit schenkte. Die Tochter Gottes – denn von Gott kommt sie mehr als von uns, da sie aus einem verdorrten Stamme sprießt – bereitet ihrer Mut-ter keine Pein; nur Frieden und Segen bringt sie ihr: die Geschenke Gottes, ihres wahren Vaters.«
»Dann werden wir sie Maria nennen, Stern unseres Meeres, Perle, unser Glück. Es ist der Name der ersten Frau [Ex 15,20–21; Num 12,1–15]. Aber die-se wird nie sündigen gegen den Herrn, und ihn allein wird sie besingen, denn ihm ist sie geweiht: Opfer schon vor der Geburt.« »Ja, ihm sei es angeboten, ob Knabe oder Mädchen.
Auch wir wollen zusammen mit ihm eine Opfergabe sein, zur Ehre Gottes.«
Beitrag 6
Jesus spricht:
»Die Weisheit Gottes erleuchtete sie in den nächtlichen Träumen, stieg als „Hauch der Gotteskraft in sie herab, als Ausstrahlung der Herrlichkeit des All-mächtigen“ [Weish 7,25], und wurde für die Unfruchtbare Wort. Der, der die Zeit der Erlösung herannahen sah, Ich, Christus, der Enkel Annas, wirkte etwa fünfzig Jahre später durch das Wort Wunder an den Unfruchtbaren, den Kran-ken, den Besessenen, den Trostlosen und an allen Elenden der Erde.
Inzwischen aber flüsterte ich, in der Freude, eine Mutter zu haben, geheimnis-volle Worte im Schatten des Tempels, der die Hoffnungen Israels barg; des Tempels an der Grenze seines Daseins; denn der neue und wahre Tempel, der nicht mehr die Hoffnungen eines Volkes, sondern die ewige Gewißheit des Pa-radieses für das Volk der ganzen Erde darstellt, sollte in Bälde errichtet werden.
Du hast in deinem Leben viele aufeinanderfolgende Generationen der Kinder Gottes gesehen.
Nun erwäge, wie schön die Seele gewesen sein muß, die der Vater mit Wohl-gefallen anschaute, noch bevor die Zeit begann; diese Seele, die die Freude der Allerheiligsten Dreifaltigkeit war, die gleichsam darauf brannte, sie mit ihren Gaben auszustatten, um sich selbst damit zu beschenken.
Als aus einem lebendigeren Herzschlag der dreifaltigen Liebe dieser lebendige Funke entsprang, jubelten die Engel; denn helleres Licht hatte das Paradies nie erblickt. Wie ein himmlisches Rosenblatt, ein geistiges, kostbares Blüten-blatt, das zugleich Perle und Flamme, das der Hauch Gottes war, der herab-stieg, ein Fleisch zu beleben, gar verschieden von den übrigen Menschen – wie ein mächtiges Feuer, das keine Schuld aufkommen ließ, durcheilte er die Räume und schloß sich ein in einen heiligen Schoß.
Die Erde besaß die Blume, wußte es aber noch nicht; die wahre, einzige Blu-me, die in alle Ewigkeit blüht: Lilie und Rose, Veilchen und Jasmin, Zyklame und Sonnenblume, alle irdische Blumenschönheit in sich schließend:
Im April glich Palästina einem großen Garten. Die Düfte und Farben entzück-ten das Herz der Menschen. Aber noch war die allerschönste Rose unbekannt. Schon blühte sie für Gott im geheimen Mutterschoß, denn meine Mutter liebte vom Augenblick ihrer Empfängnis an.
Aber erst wenn die Weinrebe ihr Blut gibt, damit daraus Wein werde, und der Duft des Mostes, süß und stark, die Tenne und die Nasenflügel erfüllt, erst dann soll sie vor Gott und den Menschen lächeln und mit ihrem unschuldigen Lächeln sagen:
Ich habe gesagt: „Maria liebte, seit sie empfangen war.“ Was gibt dem Geist Licht und Erkenntnis? Die Gnade. Und was nimmt die Gnade hinweg?
Die Erbsünde und die Todsünde.
Daher war sie schon fähig zu verstehen und zu lieben, als sie noch ein Fleisch war, das sich um eine unbefleckte Seele verdichtete, die beständig liebte. Spä-ter werde ich dich im Geist die Tiefe der Jungfräulichkeit Marias schauen las-sen. Es wird dir ein himmlisches Erschaudern verursachen, wie damals, als ich dir unsere Ewigkeit zu betrachten gab.
Inzwischen erwäge, wie die Mutter, die in ihrem Schoß ein Geschöpf trägt, das frei von allen von Gott trennenden Makeln ist, selbst wenn sie nur natürlich, menschlich empfangen hat, eine höhere Erkenntnis (Sie war voller Gnaden. Gnade aber ist Liebe, ist Weisheit, ist alles. Und da Maria deren Fülle besaß, liebte sie von dem Augenblick an, da sie eine Seele hatte.) erhält, die aus ihr eine Prophetin macht:
Und dann bedenke, was geschehen wäre, wenn von den unschuldigen Urel-tern unschuldige Kinder geboren worden wären, wie Gott es wollte! Das, ihr Menschen, die ihr euch zum „Übermenschen“ entwickeln wollt, mit euren Las-tern aber nur zum „Überdämon“ werdet, das wäre das Mittel gewesen, ein „Übermenschentum“ zu erreichen. Ihr wäret nicht vom Satan berührt worden und hättet Gott die Gestaltung des Lebens, der Erkenntnis und des Guten überlassen, ohne mehr zu verlangen, als Gott euch geben wollte (und es war um weniges weniger als das Unendliche). Ihr hättet in einer beständigen Entwick-lung zum Vollkommenen Söhne gezeugt, die dem Leib nach Menschen und dem Geist nach Söhne der Weisheit gewesen wären, d. h. Sieger, Starke und Riesen gegenüber Satan, der zu Boden geschmettert worden wäre Tausende von Jahrhunderten vor der Stunde, in der es nun geschehen wird, und mit ihm all sein Böses.«
Copyright © 2022 by Andrea, geringstes „Rädchen“ im „U(h)rwerk“ Gottes
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